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Juncker: Kann mich nicht jeden Tag fragen, was Bürger denken.

Foto: EPA/Hoslet

Standard: Kann ein einzelner Bürger einen Beitrag zur Lösung der Eurokrise leisten? Zum Beispiel: nur mehr griechische Oliven kaufen, nach Portugal auf Urlaub fahren oder den letzten Cent hervorkramen und zur Stärkung der Banken aufs Konto einzahlen.

Juncker: Da möchte ich gleich widersprechen: Wir haben es nicht mit einer Eurokrise zu tun, sondern mit einer Verschuldenskrise einzelner Eurostaaten. Der Außenwert des Euro ist stabil, die Ersparnisse sind nicht in Gefahr. Trotzdem ist die salopp formulierte Frage nicht abwegig, in dem Sinne, dass es sehr wohl kleiner Solidaritätsleistungen bedarf, damit vor allem in Griechenland die Wirtschaft nicht total absackt. Ich fordere jetzt nicht jeden auf, seine Ferien in Griechenland zu verbringen. Aber es wäre gut, wenn möglichst viele hinfahren.

Standard: Sie sprechen von Solidarität. Derzeit wird in Europa aber nur gespart. Dabei ist die Situation in einigen Ländern kritisch. In Spanien etwa sind rund fünf Millionen Menschen arbeitslos.

Juncker: Es gibt keine realistischen Wachstumsperspektiven in einem Land, dessen öffentliche Finanzen versauern. Auch wenn dies kaum einsichtig zu erklären ist, sollte der junge Spanier Interesse daran haben, dass die öffentlichen Finanzen in seinem Land in Ordnung sind. Aber es stimmt, der arbeitslose Spanier - alle 23 Millionen Erwerbslosen in der EU - braucht Perspektiven. Darum müssen wir jetzt die Sparpolitik mit einer Wachstumsstrategie ergänzen.

Standard: Wie soll diese aussehen?

Juncker: Wir müssen uns genau ansehen, wie man die europäischen Haushaltsmittel besser für schwächere Euroländer einsetzen kann. Griechenland, Spanien und andere Länder könnten wesentlich mehr Mittel aus den EU-Töpfen abschöpfen, wenn wir die Regeln dieser Struktur- und Kohäsionsfonds ändern würden. Wir müssen diesen Ländern bei der Auswahl und Ausgestaltung der Projekte, die Gelder aus dem EU-Haushalt empfangen können, behilflich sein. Da tun wir bisher nicht genug. In Griechenland gibt es bereits eine EU-Taskforce und derartige Anstrengungen müssen auch in anderen Ländern verstärkt werden. Welche Summen lukriert werden können, muss sich die EU-Kommission ansehen.

Standard: Athen verhandelt mit den Banken über einen Schuldenschnitt. Reicht dieser Haircut?

Juncker: Unsere Erwartung ist, dass Griechenland bis 2020 die öffentliche Verschuldung auf 120 Prozent seiner Wirtschaftsleistung abgesenkt haben wird. Wahrscheinlich wird dies nicht zur Gänze zu erreichen sein. Trotzdem brauchen wir weitere Schritte in diese Richtung. Das hat zur Folge, dass das Angebot der Banken, was die Verzinsung der neuen griechischen Anleihen betrifft, noch verbessert werden muss.

Standard: Der Ruf wird lauter, dass sich auch die Europäische Zentralbank und die anderen Eurostaaten, die Kredite an Athen vergeben haben, an einem Schuldenschnitt beteiligen. Was denken Sie?

Juncker: Die Zentralbank ist unabhängig, und es ist nicht angebracht, dass der Präsident der Eurogruppe öffentliche Empfehlungen an die Währungshüter gibt.

Standard: Was empfehlen Sie den Eurostaaten in puncto Haircut?

Juncker: Das hängt von der Gesamtlösung ab. Wenn die griechische Schuldentragfähigkeit unter Beweis gestellt wird und es ein Gesamtverständnis mit dem privaten Sektor gibt, wird sich auch der öffentliche Sektor fragen müssen, ob er nicht die Hilfestellung leistet.

Standard: Politisch wäre die Teilnahme der Eurostaaten an einer Umschuldung schwer verkaufbar.

Juncker: Wenn man angesichts einer historischen Zwangslage unpopuläre Maßnahmen treffen muss, die auch nicht sofort von den eigenen Bürgern verstanden werden, ist das nicht eine Frage, die mich sonderlich bewegt. Ich kann mich nicht jeden Tag fragen, ob jeder Bürger der EU mit jeder Maßnahme der Politik einverstanden ist. Was wir jetzt machen, kann nicht von Applaus begleitet sein. Aber wenn wir den Karren jetzt an die Wand fahren, sind die Lebenschancen der nächsten Generation ernsthaft gefährdet.

Standard: Ist nicht ein zentraler Fehler, dass dauernd Horrorszenarien ausgemalt werden. Zuerst hieß es: Wenn Griechenland entschuldet wird, brechen die Banken zusammen. Jetzt wird gewarnt: Wenn Griechenland aus dem Euro austritt, bricht Chaos aus. Sollte man mit diesem Teufel-an-die-Wand-Malen nicht aufhören?

Juncker: Was heißt hier den Teufel an die Wand malen? Den Teufel gibt es doch! Wenn man Griechenland abrutschen lässt und die Menschen dort vor unlösbare Aufgaben stellt, zum Beispiel einer ungeordneten Staatspleite, dann ist dies nicht nur ein theoretisches Horrorszenario, sondern es wäre die Inkaufnahme von gewaltigen sozialen Problemen.

Standard: Am Montag wird beim EU-Gipfel der neue Fiskalpakt verhandelt. Da geht es etwa darum, ob Länder, die sich nicht an Sparvorgaben halten, vor den Europäischen Gerichtshof gezerrt werden ...

Juncker: ... so ist das falsch. Es gibt den Vorschlag, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) überprüft, ob die Schuldenbremsen richtig im nationalen Recht umgesetzt worden sind. Es gibt wohl eine Debatte, aber noch keine Festlegung darauf, dass der EuGH nationale Haushalte überprüfen kann. Das wird nicht passieren. Haushaltspolitik ist das Königsrecht der nationalen Parlamente. Die Regierungen müssen dafür sorgen, dass die gemeinsamen Beschlüsse in Brüssel in den Parlamenten umgesetzt werden. Der Vorstellung, dass der EUGH die Einhaltung der Haushaltsregeln sanktionieren oder überprüfen kann, hänge ich nicht an.

Standard: Ein anderer Streit betrifft den permanenten Euro-Rettungsschirm ESM. Es wird diskutiert, ob der ESM mit seinem 500-Milliarden-Euro-Volumen nicht aufgestockt wird. Nicht genutzte Gelder aus dem provisorischen Rettungsschirm (EFSF) könnten dazu dienen.

Juncker: Es ist entschieden, dass der ESM über ein Gesamtvolumen von 500 Milliarden Euro verfügt. Wir werden im März überprüfen, ob das ausreicht. Es ist noch nicht entschieden, ob die restlichen Mittel vom EFSF in den ESM übergeführt werden. Ich bin dafür. Wir müssen zudem auch noch entscheiden, wie schnell wir den Kapitalstock, über den der ESM verfügen muss, anlegen. Es ist jetzt verabredet, dass die Staaten in fünf Tranchen zu je 80 Milliarden Euro einzahlen. Es gibt jetzt die Überlegung, die ich nachhaltig unterstütze, dass man das Kapital schneller einzahlt.

Standard: Zum Schluss: Kann es sein, dass die Eurozone am Ende die Finanzmärkte beruhigt, damit aber den falschen Kampf gewinnt, dass die 23 Millionen Arbeitslosen das viel dramatischere Problem sind.

Juncker: Mich treibt um, dass man das Vertrauen der Menschen in das Europäische Projekt wiederherstellen muss, denn dieses ist zugegebenermaßen derzeit ziemlich lädiert. Bei aller Notwendigkeit die Finanzmärkte im Zaum zu halten, besteht die Notwendigkeit, die EU-Bürger mit dem Europäischen Projekt zu versöhnen. (András Szigetvari, DER STANDARD, Printausgabe, 27.1.2012)