Die Linke habe "furchtbare Angst" vor dem Thema Migrantenrechte, meint Cissé.

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"Wir sagten: So kann das nicht weitergehen."

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"Europa braucht uns mehr, als wir Europa brauchen."

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Vier Jahre lang kämpfte die Senegalesin Madjiguène Cissé in Frankreich für die Rechte von Zugewanderten ohne Aufenthaltserlaubnis. Als Sprecherin der Sans-Papier-Bewegung besetzte sie eine Kirche, organisierte Demonstrationen und Streiks und erwirkte so die Legalisierung zahlreicher Illegalisierter. Seit zwölf Jahren arbeitet Cissé für Frauenprojekte im Senegal, um Familien in ländlichen Gebieten die Existenz zu sichern.

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derStandard.at: In Paris waren Sie der Kopf einer riesigen Protestbewegung von Zugewanderten. Prominente SozialdemokratInnen kämpften 1996 Seite an Seite mit Ihnen, ein Jahr später kamen sie an die Macht. Was änderte sich dadurch für Sie?

Madjiguène Cissé: Viel. Wissen Sie, wenn man an der Macht ist, reagiert man anders. Die Linke hat ein Jahr lang mit uns demonstriert, und plötzlich war die Linke an der Macht, und ab diesem Moment hatte sie eine ganz andere Beziehung zu uns. Sie fanden unsere Forderungen plötzlich "zu extrem" - obwohl die Forderungen dieselben waren wie am Anfang. Deswegen haben wir weiter mobilisieren müssen, um für die Leute Papiere zu bekommen.

derStandard.at: Warum haben sozialdemokratische Parteien so viel Scheu, sich für die Rechte von MigrantInnen einzusetzen?

Cissé: Sie haben Angst vor der öffentlichen Meinung. In Frankreich haben die Politiker Angst, dass die Gegner sagen: "Ah, Sie wollen Bewegungsfreiheit, Sie wollen also allen Ausländern Platz bieten? Dann werden die Einheimischen aber keine Arbeit mehr finden, und die Kinder haben keinen Platz mehr in den Schulen!" Davor haben sie furchtbare Angst.

derStandard.at: Was ist Ihre Antwort?

Cissé: Die meisten in unserer Bewegung waren ja französischsprachige Zugewanderte, wir kamen aus frankophonen Ländern. Und diese Länder verband mit Frankreich eine 300 Jahre lange Beziehung. Darum haben wir gesagt: Es war bitte schön kein Zufall, dass wir beim Emigrieren als Erstes an Frankreich gedacht haben. Denn irgendwie gehört ein Teil von Frankreich auch uns.

derStandard.at: Sie, die Frankophonen, haben sich aber mit allen anderen Papierlosen, beispielsweise aus China, solidarisiert.

Cissé: Ja, das war ein Kampf innerhalb der Bewegung, denn nicht alle Sans-Papiers konnten das verstehen. Viele dachten: Wenn wir auf einmal so viele sind, dann geben sie uns vielleicht keine Papiere mehr. Aber wir haben gesagt: Nein. Je mehr, umso mächtiger. Denn das ist die beste Garantie dafür, dass wir keine lokale, sondern eine nationale Bewegung werden. Und sechs Monate später hatten wir schon eine nationale Koordination der lokalen Bewegungen. Für jede lokale Sans-Papiers-Bewegung gab es breite Unterstützung. Nur so konnten wir erfolgreich sein.

derStandard.at: Warum sind Sie gerade im Jahr 2000 wieder in den Senegal zurückgekehrt?

Cissé: Ich war ja nie gekommen, um zu bleiben. (lacht) Ich hatte meinen Teil zu diesem Kampf beigetragen, und als die Linke an die Macht kam, haben wir immer wieder Druck gemacht und kamen schließlich zu einer kollektiven Legalisierung. Das betraf 90.000 Leute - eine große Menge.

derStandard.at: Sie hatten also Ihr Ziel erreicht? 

Cissé: Vor meiner Rückkehr habe ich eine große Party für meine Freunde und Freundinnen organisiert, mit sehr vielen Gästen, und die Franzosen sagten zu mir: "Hey, Madjiguène, da bist du vier Jahre hier, baust Scheiße, störst die öffentliche Ordnung, und dann stehst du einfach auf und gehst?" Und ich habe gesagt: "Vielleicht war ich ja nur deshalb hier."

derStandard.at: Sie selbst wurden nicht legalisiert. Warum nicht?

Cissé: Wenn man keine Sans-Papier ist, dann kann man auch nicht die Bewegung der Sans-Papiers führen - das ist meine Meinung. Aber die Polizei hat versucht, mich zu erpressen. Sie haben Leute zu mir geschickt, die gesagt haben: "Madjiguène, es hängt allein von dir ab. Wenn du heute mit dieser Bewegung aufhörst, dann geben wir dir nicht nur die Aufenthaltskarte, sondern sogar die französische Staatsbürgerschaft!" Aber ich habe immer abgelehnt. Ich habe gesagt, ich brauche keinen französischen Pass. Denn bei meinem Kampf geht es darum, dass Afrika sich vereint, und wenn ich einen einzigen Pass für ganz Afrika habe, dann war mein Kampf erfolgreich.

derStandard.at: Sie waren schon oft in Österreich. Glauben Sie, dass so eine Bewegung auch hier möglich wäre?

Cissé: Ich weiß nicht, ob die öffentliche Meinung in Österreich eine so große Bewegung von Migranten und Migrantinnen so gut aufgenommen hätte. Damals, in Frankreich, haben die Leute sehr gut reagiert, weil wir, die Betroffenen, endlich zu Wort gekommen sind. Das war das Wichtigste. Denn vorher haben in Frankreich immer diese Menschenrechtsvereine alles verwaltet. Nun haben die Franzosen plötzlich "diese Ausländer" gesehen, haben gehört, wie wir gesprochen haben. Sie haben plötzlich neue Leute entdeckt - obwohl sie mit diesen Leuten seit Jahren zusammen gelebt haben. Sie hatten vorher nicht gewusst, dass das ganz normale Frauen, Männer und Kinder sind. Es war wichtig, dass wir zu Wort gekommen sind.

derStandard.at: Zu Wort gekommen sind Sie nicht durch eine Pressekonferenz oder Leserbriefe, sondern durch die Besetzung einer Kirche in Paris.

Cissé: Ja, die afrikanischen Sans-Papiers haben diese Besetzung gemacht, nach der Einführung der strikten Ausländergesetze 1993. Nach diesem Gesetz konnte man ja nichts mehr machen, alle Türen waren versperrt, man konnte die Papiere nicht mehr verlängern. Die Leute hatten die Nase voll. Sie waren schon lange da, hatten da gearbeitet und Steuern bezahlt und konnten plötzlich nichts mehr machen. Wir sagten: "So kann das nicht weitergehen." Und drei Jahre später entstand die Bewegung der Sans-Papiers. 

derStandard.at: Die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner fordert "einen Schutzschirm" gegen illegale Migration in die EU. Haben Sie Verständnis dafür?

Cissé: Ach, das sagen sie ja alle in der EU. Aber man kann das Meer nicht mit den Armen aufhalten, das ist unmöglich. Wir erleben Dramen, weil Menschen sich bewegen wollen. Aber sich bewegen zu wollen ist ein natürlicher Instinkt. Und diesen Instinkt kann man den Leuten nicht wegnehmen. So oder so, wir müssen gemeinsam Lösungen finden. 

derStandard.at: Welche Verantwortung trägt Europa für die Armut in Afrika?

Cissé: Wir haben die Verantwortung. Europa verteidigt nur seine Interessen. Wir müssen also unsere Interessen auch verteidigen. Europa hat Afrika im 19. Jahrhundert wie einen Kuchen aufgeteilt. Diese Grenzen gibt es immer noch, und da sind wir auch selbst daran schuld. Wenn wir nicht wollen, dass Afrika sich vereint, dann wird es nicht passieren. Europa wird es nicht für uns tun. Wir, die afrikanischen Intellektuellen, müssen patriotisch denken.

derStandard.at: Warum soll sich Afrika vereinen?

Cissé: Europa braucht Afrika als Absatzmarkt. Zögen wir Mauern auf, dann würde Europa zugrunde gehen - dessen müssen wir uns bewusst sein. Europa braucht uns mehr, als wir Europa brauchen. Also sollten wir mit einer Stimme sprechen.

derStandard.at: Europa schottet sich ab, Sie hingegen sind Vertreterin der offenen Grenzen. 

Cissé: Ja, es ist wichtig, dass die Menschen sich frei bewegen können - auch innerhalb von Afrika. Wenn unsere Frauen Farbstoffe in Mali kaufen und damit in den Senegal fahren, dann haben sie jede Menge Probleme an den Grenzen - mit den Polizisten, dem Zoll und so weiter. Das alles muss weg. Und dasselbe gilt für die Kontinente. Man muss doch in einen anderen Kontinent reisen können, um dort etwas zu lernen und das neue Wissen zurückbringen zu können. Nur so lässt sich eine Welt aufbauen. Europa wäre nicht dort, wo es heute steht, wenn die Europäer diese Möglichkeit nicht gehabt hätten. 

derStandard.at: Wie viele Menschen kämen aus Afrika nach Europa, würde man die Grenzen heute öffnen?

Cissé: Die kämen nach Europa, direkt nach Wien bei minus 14 Grad - und würden direkt wieder nach Hause fahren und sagen: "Ich komme im Sommer wieder!" (lacht) Scherz beiseite: Adam und Eva hatten damals im Paradies ein großes Problem, und zwar die verbotene Frucht. Wenn etwas verboten ist, strebt der Mensch immer genau danach. Anders gesagt: Wären die Grenzen offen - es würde keine Invasion geben. (Maria Sterkl, derStandard.at, 27.1.2012)