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Ein Leben unter Beobachtung.

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Thomas Heberer ist Leiter des Lehrstuhls für Politik/Ostasien der Universität Duisburg-Essen. Sein Forschungsschwerpunkt ist China. Seit 1981 führt Heberer regelmäßig Feldforschung in verschiedenen Regionen Chinas durch.

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Bei neuen Protesten gegen die chinesische Herrschaft wurden in Tibet diese Woche bis zu sechs Menschen getötet und 60 verletzt. Zahlreiche Selbstverbrennungen tibetischer Mönche und Nonnen sorgten im vergangenen Jahr für Schlagzeilen. Seit mehr als 60 Jahren wehren sich die Menschen im größten Hochland der Erde gegen die chinesische Fremdherrschaft. Chinas Machthaber hingegen sehen das "Dach der Welt" als durch sie befreite Region. China-Experte Thomas Heberer vom Duisburger Ostasieninstitut spricht im Interview mit derStandard.at über unterschiedliche Sichtweisen und die zentrale Rolle der Integrationsfigur Dalai Lama.

derStandard.at: Das Jahr des Drachen beginnt in China mit tibetischen Protesten, die niedergeschlagen werden. Im vergangenen Jahr haben sich mindestens zwölf buddhistische Mönche, Nonnen und frühere Mönche aus Protest selbst verbrannt. Kann man hier von einer neuen Qualität tibetischen Protests gegen China sprechen?

Heberer: Die Selbstverbrennungen bedeuten schon eine neue Qualität. Im Buddhismus beeinträchtigen solche Taten die Wiedergeburt. Die Kette an Selbstverbrennungen weist darauf hin, dass es unter jungen Tibetern dazu mittlerweile eine andere Auffassung zu geben scheint. Nämlich, dass Selbstverbrennungen sehr wohl ein Teil eines Wiedergeburtsprozesses sein können, wenn und insofern sie Ausdruck des Einsetzens für sein eigenes Volk und seine Religion sind. Zudem sind sie zu begreifen als Protest gegen das Ausmaß an Kontrolle und Bevormundung durch chinesische Behörden. Zudem glaube auch, dass die Selbstmordattentate der arabischen Welt hier eine gewisse Vorbildrolle spielen mögen. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass man nur sich selbst und nicht anderen schadet bzw. schaden will.

derStandard.at: Schon 2008 wurden großflächige Proteste gegen China gewaltsam niedergeschlagen. Hat sich seither für die Tibeter etwas geändert?

Heberer: In den tibetischen Gebieten existiert aus unterschiedlichen Gründen nach wie vor eine starke Unzufriedenheit. Einerseits ist man unzufrieden, dass die Integrationsfigur der tibetischen Nation, der Dalai Lama, langfristig wohl nicht zurückkehren wird. Andererseits betreibt China Negativpropaganda gegen den Dalai Lama. Er würde die Spaltung des Landes betreiben, alle Proteste der Tibeter seien vom Ausland gesteuert. China hat einen Tag zur Feier der Befreiung vom Sklavendasein der Tibeter eingeführt. All das zusammengenommen mag starke Unzufriedenheit der Tibeter hervorrufen und Proteste auslösen, die dann wiederum gewaltsam niedergeschlagen werden. Eine Endlosspirale.

derStandard.at: Haben die Tibeter überhaupt eine Chance?

Heberer: Es gibt schätzungsweise fünf Millionen Tibeter in China. Das sind etwa 0,4 Prozent der Gesamtbevölkerung und fünf Prozent aller ethnischen Minderheiten. Das Zahlenverhältnis zeigt, dass es für die chinesische Regierung nicht sonderlich schwer ist, das Ganze unter Kontrolle zu halten. China geht davon aus, dass Tibet seit dem 18. Jahrhundert zu China gehört, alle Dalai Lamas sind seit damals von der chinesischen Regierung ernannt worden. Das gilt auch für den jetzigen Dalai Lama.

Interessanterweise hat die chinesische Regierung 2007 ein Gesetz verabschiedet, das sich mit der Anerkennung tibetischer Reinkarnationen durch den Staat befasst. In diesem Gesetz geht man zurück auf eine Regelung, die Kaiser Qian Long im 18. Jahrhundert eingeführt hat. Tibetische religiöse Führer ziehen aus einer Porzellanvase den Namen der jeweiligen Reinkarnation, wobei ein Vertreter der chinesischen Zentralregierung anwesend ist und sein Einverständnis gibt. Das soll symbolisieren, dass Tibet sich einerseits als Teil Chinas versteht, andererseits jedoch seine religiösen Angelegenheiten prinzipiell selbst regeln kann, solange es die Zugehörigkeit zu China akzeptiert.

Größere Autonomie allein für Tibet würde ein neues Problem mit sich bringen. Denn dann würde ein Großteil der 54 anderen ethnischen Minderheiten in China, die zum Teil eine viel größere Bevölkerung umfassen als die Tibeter, ebenfalls größere Selbstverwaltungsrechte einfordern. Das aber würde insgesamt die Frage nach einer neuen Staatsstruktur aufwerfen. Von daher ist die Frage der Ausweitung von Autonomie also nicht eine reine Frage der Tibeter. Eine solche Veränderung der Staatsstruktur ist gegenwärtig jedoch nicht vorstellbar.

derStandard.at: Eine chinesische "Methode", der Lage Herr zu werden, ist es auch, in Klöstern "Spitzel" einzuschleusen, die die Menschen überwachen. Aus dem Kloster Kirti in der Region Aba, einem Zentrum des tibetischen Buddhismus, sollen in den vergangenen Monaten Mönche verschleppt worden sein. Es soll sogenannte patriotische Schulungen geben.

Heberer: In Klöstern, wo sich die Protestbewegung stärker formiert, versucht der Staat Kontrolle und Beobachtung zu verstärken. Mittel wie "Patriotische Erziehung der Mönche" halte ich für ungeeignet. Mit ihren Mitteln beweisen die chinesischen Behörden bislang keine hohe Problemlösungskompetenz.

derStandard.at: Der Dalai Lama hat im vergangenen Jahr die politische Verantwortung gegen den Willen der meisten Tibeter an den Juristen Lobsang Sangay weitergegeben, der nun Premierminister der Exilregierung im indischen Dharamsala ist. Wie hat sich das bisher ausgewirkt?

Heberer: In Tibet selbst spielt diese Übergabe keine große Rolle. Die Exilregierung hat unter den Tibetern auch kein großes Standing. Lobsang Sangay ist nicht sehr bekannt, und die Führungsfigur ist und bleibt der Dalai Lama. Auch spricht Sangay nur gebrochen Tibetisch. Schon von daher ist er nicht die Person, die gewährleisten könnte, dass es bei den Verhandlungen mit China zu irgendwelchen greifbaren Ergebnissen kommen könnte. Ohne den Dalai Lama dürfte der Einfluss der tibetischen Exilregierung noch schmäler werden.

derStandard.at: Was wird aus der tibetischen Freiheitsbewegung nach dem Tod des 14. Dalai Lama?

Heberer: Ähnlich wie im Falle des Panchen Lama (zweitwichtigster Würdenträger Tibets, Anm.), wo zwei Reinkarnationen anerkannt wurden (eine durch den Dalai Lama, eine durch die Regierung in Peking), könnten dann auch zwei Dalai Lamas existieren. Die chinesische Seite hat schon erklärt, dass die Reinkarnation innerhalb Chinas erfolgen wird, der Dalai Lama wiederum hat verkündet, dass sich die Reinkarnation vermutlich im Ausland vollziehen wird. Damit wäre die tibetische Bewegung gespalten. Darauf hofft Peking natürlich.

Auch jetzt existiert unter den Tibetern keine Einigkeit. Es gibt einerseits den tibetischen Studentenverband im Ausland, der für radikalere Lösungen eintritt, und andererseits die Älteren um den Dalai Lama, die nach einer friedlichen Lösung in Form größerer Autonomierechte streben. Auch im religiösen Bereich existieren durchaus unterschiedliche Strömungen und Sekten, die sich bekämpfen.

derStandard.at: Das Wirtschaftswachstum in der Region Tibet ist laut chinesischen Angaben enorm. Wie geht es dem Durchschnitt der Menschen wirtschaftlich?

Heberer: Zweifellos hat die Wirtschaftsentwicklung in den tibetischen Gebieten einen Aufschwung genommen. Die Infrastruktur ist durch den Bau von Straßen, Schulen und Krankenhäusern massiv verbessert worden. Die Preise für Fleisch sind gestiegen, was für die Viehzüchter und Nomaden höhere Einkommen bedeutet. Zufriedenheit oder Unzufriedenheit von Ethnien haben aber nicht nur mit der Erhöhung des Bruttoinlandprodukts oder höheren Investitionen zu tun.

Ein gewisses Maß an kultureller und religiöser Selbstbestimmung sowie sozialer Gleichheit gehört auch dazu. Das Problem ist, dass chinesische Behörden bislang wenig Gespür für solche Fragen entwickelt haben. Partiell wird schon jede Bewegung Richtung kultureller Eigenständigkeit als Versuch begriffen, sich von China abzuwenden. Der Mangel an Verständnis und ungenügendes Konfliktmanagement machen es so schwierig, eine Lösung zu finden.

derStandard.at: Wie funktioniert das Zusammenleben der Tibeter mit den neu angesiedelten Chinesen?

Heberer: Es gibt eine Untersuchung eines chinesischen Soziologen in Bezug auf Lhasa, die festgestellt hat, dass beide in sehr separierten Sphären leben. In der Neustadt leben hauptsächlich Han-Chinesen, in der Altstadt hauptsächlich Tibeter. Beiden haben relativ wenig miteinander zu tun. Doch es wandern nicht nur Han zu, sondern vor allem auch Hui-Händler. Die Hui sind ebenfalls eine ethnische Minderheit. 2008 wurde in Lhasa sogar die Moschee der muslimischen Hui von tibetischen Protestierern niedergebrannt.

derStandard.at: Seit Jahren wird die Tibet-Frage auf internationaler Ebene thematisiert, der Dalai Lama ist ein gerngesehener Gast. Trotzdem hat sich an der Lage der Tibeter kaum etwas verändert.

Heberer: Die Tibet-Frage ist für die westliche Welt eine Frage der Menschenrechte und nicht der tibetischen Unabhängigkeit. Und auch die wird durch die Realpolitik oft überlagert. Für die internationale Staatengemeinschaft ist Tibet untrennbarer Bestandteil Chinas. Kein Staat würde eine Unabhängigkeitsbewegung unterstützen. Auch aus völkerrechtlicher Sicht ist Tibet Teil Chinas. Schon der Völkerbund, die Vorläuferorganisation der UNO, erkannte Tibet nicht als unabhängigen Staat an. Daran dürfte sich auch in Zukunft nichts ändern. (mhe, derStandard.at, 26.1.2012)