Die demokratisch gewählten europäischen Regierungen schaffen es nicht oder nur unzureichend, mit der Krise fertigzuwerden. In diesem Urteil sind sich ausnahmsweise die Stammtischexperten und wirkliche Experten einig. Aber wer dann? Zusätzlich zu allen Zukunftsängsten, ökonomischen Unsicherheiten und Pleitegerüchten erleben wir heute, erstmals seit 1945, ernsthafte Zweifel an der Demokratie, wie wir sie kennen.

Alles für das Volk, nichts durch das Volk. Das war das Handlungsprinzip des Reformkaisers Joseph II. Dieser Kaiser war ein Aufklärer, aber kein Demokrat. Er wollte Reformen, und er setzte sie auch durch, aber Reformen von oben. Die Französische Revolution, die seine Schwester aufs Schafott gebracht hatte, saß ihm in den Knochen. Dem Volk, diesem dummen Kerl, misstraute er. Mehr als zweihundert Jahre später springen uns gewisse Parallelen zu damals ins Auge.

Dreimal hintereinander hat das italienische Volk in demokratischer Wahl Silvio Berlusconi zum Ministerpräsidenten gemacht. Dieser führte das Land moralisch wie wirtschaftlich ins Unglück. Der Mann, der es aus diesem Unglück jetzt wieder herausführen soll, der gelernte Ökonom und Ex-EU-Kommissar Mario Monti, ist von allen, in Italien wie im übrigen Europa, mit Erleichterung begrüßt worden. Monti, heißt es, kann den Job. Aber er ist nicht gewählt. Und auch im zweiten europäischen Problemland, in Griechenland, amtiert mittlerweile ein nicht demokratisch gewählter Regierungschef. Auch von ihm erwartet die Öffentlichkeit Besseres als von seinen nach demokratischen Regeln ins Amt gekommenen Vorgängern.

Notwendige Reformen durch weniger Bürgerbeteiligung, weil die Regierenden nicht ständig auf die nächste Wahl Rücksicht nehmen müssen? Oder, umgekehrt, durch mehr Bürgerbeteiligung, etwa Volksabstimmungen? Viele sehen das Heilmittel in mehr direkter Demokratie.

Freilich, im Zeitalter von mächtigen Boulevardmedien, die sich selbst zur Stimme des Volkes erklären, kann der Volkswille beträchtlich manipuliert werden. Und wer sagt, dass man hierzulande durch Volksabstimmungen nicht auch "Reformen" wie "Raus aus der EU", "Ausländer raus" und die Todesstrafe für Kinderschänder auf den Weg bringen könnte?

Helmut Schmidt, der 94-jährige Elder Statesman, dem die Deutschen mehr vertrauen als ihren jetzt tätigen Politikern, meinte kürzlich bei einer TV-Diskussion, die Europäer sollten sich nicht einbilden, das ihre Art von Demokratie das allein seligmachende Rezept für die ganze Welt sei. In der arabischen Welt etwa suchen die Menschen nach anderen Lösungen, sie versprechen sich mehr Gerechtigkeit vom Islam als von liberaler Demokratie westlicher Prägung. In Russland hat seit dem Chaos der Ära Jelzin die Demokratie einen schlechten Ruf. Viele sind mit der "gelenkten Demokratie" à la Putin zufriedener.

Die Demokratie ist von allen schlechten Lösungen immer noch die beste, meinte Winston Churchill. Das ist bescheiden genug. Aber selbst daran wird derzeit gezweifelt. Die Regierenden werden sich anstrengen müssen, um ihre Wähler selbst von diesem etwas resignativen Ja zur Demokratie zu überzeugen.(DER STANDARD Printausgabe, 26.1.2012)