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Zur Person

Sulejman Tihic war 1990 einer der Mitbegründer der bosniakischen Partei der Demokratischen Aktion (SDA). Der Jurist wurde 1992 in ein Gefangenenlager gebracht und dort gefoltert. Er saß von 2002 bis 2006 im Staatspräsidium.

Foto: Reuters/Cukovic

Der Chef der bosniakischen Partei SDA, Sulejman Tihic, übt Kritik an der internationalen Gemeinschaft und dem serbischen Präsidenten Boris Tadic, der zu den 20-Jahr-Feiern der Republika Srpska nach Bosnien gekommen ist.

Standard: Die Regierung in Bosnien-Herzegowina ist praktisch nur aufgrund starken finanziellen Drucks zustande gekommen. Ist hier überhaupt ein normaler demokratischer Prozess möglich?

Tihic: Wenn wir über Bosnien sprechen, sprechen wir über ein nicht vollendetes System. Aber nun haben wir es bei der Regierungsbildung das erste Mal geschafft, nicht nur das ethnische Prinzip, sondern auch das Bürgerprinzip einzubringen. Bis jetzt hat die HDZ alle Kroaten in der Regierung ernannt. Zum ersten Mal haben nun die multiethnischen Sozialdemokraten auch kroatische Posten besetzt.

Standard: Wann wird Bosnien-Herzegowina sich um den EU-Kandidatenstatus bewerben?

Tihic: Bis Ende des Monats wird der neue Ministerrat konstituiert. Im Februar wird das Gesetz zur Volkszählung und jenes zur Staatshilfe das Parlament passieren. Und im März könnten wir theoretisch den Antrag auf den Kandidatenstatus stellen.

Standard: Serbien hat den Kandidatenstatus im Dezember nicht bekommen. Haben Sie die Befürchtung, dass der Beitrittsprozess nach dem Ja zu Kroatien verzögert wird?

Tihic: Dieses Jahr finden in Serbien Wahlen statt, und das wird sich auf den gesamten Prozess auswirken. Bosnien wird aber schneller vorankommen.

Standard: Schneller als Serbien?

Tihic: Serbien war bisher ein bisschen besser, wir werden das aber aufholen. Und es wäre in Ordnung, wenn wir 2013 den Kandidatenstatus zusammen mit Serbien bekommen.

Standard: Am 9. Jänner wurde der 20. Jahrestag der Gründung der Republika Srspka (RS), der zweiten Entität, gefeiert. Auch wichtige Politiker aus Serbien wie Präsident Boris Tadic waren in Banja Luka anwesend.

Tihic: Es ist eine Politik der zwei Gesichter. Tadic spricht einerseits über die territoriale Integrität Bosnien-Herzegowinas, über die Souveränität. Aber er ist nicht konsistent. Er spricht auch über die RS als eine serbische Entität, und das entspricht natürlich nicht dem Dayton-Friedensvertrag. Denn laut Dayton ist die RS eine multiethnische Entität von Serben, Bosniaken und Kroaten. Wenn sich Tadic also für die RS einsetzt, muss er sich für die Gleichstellung der Bosniaken und Kroaten einsetzen. Aus einer multiethnischen Entität wurde nämlich eine ausschließlich orthodoxe Entität gemacht. Die feiern orthodoxe Feiertage als Entitätsfeiertage. Und wenn ein Regierungsgebäude der RS eröffnet wird, dann weiht der Priester zuerst das Gebäude, obwohl dort nicht nur Serben, sondern auch Kroaten und Bosniaken arbeiten. Wir werden die RS niemals als serbische Entität akzeptieren. Und wir werden niemals den 9. Jänner als Tag der RS akzeptieren, weil es sich doch um den Tag handelt, an dem die Massenmorde, die Vertreibungen und ethnischen Säuberungen begonnen haben. Es verwundert uns zutiefst, dass am 9. Jänner die gesamte kroatische Führung in der ersten Reihe gesessen ist, auch der neue Premier von Bosnien-Herzegowina, Vjekoslav Bevanda. Sie haben den Tag gefeiert, an dem die Kroaten aus der RS vertrieben wurden. Dort gibt es heute nicht einmal mehr fünf Prozent Kroaten.

Standard: Denken Sie, dass die Vertriebenen noch zurückkehren könnten?

Tihic: Wir leben in einer unrechten Welt, und in so einer Welt haben wir auch das Dayton-Abkommen bekommen. Damit wurden die Kriegseroberungen der Serben akzeptiert. Die internationale Gemeinschaft hat die RS legalisiert, obwohl alle Gerichte, auch das Haager Gericht, festgestellt haben, dass serbische Truppen Massenmorde und Genozid begangen haben. Die internationale Gemeinschaft hat die Rückkehr der Flüchtlinge aufgegeben, sie haben das nicht ausreichend angestrebt. Einige Prozent der Bosniaken sind in die RS zurückgekehrt, aber nur ganz wenige Kroaten. Die Republik Kroatien hat für die Rückkehr ja auch gar nichts gemacht. Anscheinend ist in bestimmten Köpfen die Aufteilung von Bosnien, der Plan von Milosevic und Tudjman, noch immer lebendig. Nach unserer Schätzung leben jetzt in der RS 15 Prozent Bosniaken. Das Heikle daran ist, dass nur acht bis zehn Prozent registriert wurden. Denn ein Teil von ihnen hat sich nicht in der RS registriert, weil sie sonst sämtliche erworbenen sozialen Rechten verlieren würden. Wir möchten jetzt die Gesetzgebung ändern, sodass diese Bosniaken nicht ihre Rechte verlieren, wenn sie sich in der RS registrieren.

Standard: Haben die Bosniaken kein Vertrauen in die RS?

Tihic: Es geht nicht primär ums Vertrauen, sondern um die Rechte. Wenn eine schwangere Frau etwa Schwierigkeiten bei der Geburt hat, wird sie von der RS nicht nach Tuzla geschickt, sondern nach Valjevo in Serbien. Jetzt haben wir die Gesetzgebung so geändert, dass die schwangere Bosniakin aus Ostbosnien problemlos in Tuzla behandelt werden kann. Wir denken, dass dadurch die Zahl der Bosniaken und eventuell der Kroaten in der RS ansteigen wird.

Standard: Sie haben die Verfassung von Bosnien-Herzegowina mit einem Haus verglichen, in das man nicht hineinkommt.

Tihic: Wir fühlen uns von der internationalen Gemeinschaft verlassen. Wir haben ein ganz teures und nicht funktionierendes System, das von der internationalen Gemeinschaft oktroyiert wurde. Die Serben haben 50 Prozent des Territoriums, 50 Prozent der Rechte bekommen und haben ein Drittel der Bevölkerung. Die internationale Gemeinschaft sagt: Ihr müsst das zwischen euch regeln. Aber wie? Es liegt nicht im Interesse der RS, Arrangements zu machen, die nicht zu ihren Gunsten sind.

Standard: Das heißt, dass Sie mit dieser Verfassung leben werden müssen.

Tihic: Unrechte Lösungen sind nie gut. Wenn wir zwei ein gemeinsames Stück Land hätten, und ich würde mir einen größeren Teil nehmen, weil Sie schwächer sind. Dann könnten Sie sagen: Gut, wir können trotzdem gemeinsam leben. Sie werden vielleicht keine Probleme machen. Aber Ihr Kind?

Standard: Sie meinen, die nächste Generation wird reagieren?

Tihic: Ja, das Kind wird das zurückhaben wollen. Das wird langfristig wieder an die Oberfläche kommen. Wir sind jetzt stärker. Wir suchen keine Streitigkeiten. Aber die internationale Gemeinschaft muss eine gerechte Lösung umsetzen. Alle, die wollen, dass das Büro des Internationalen Hohen Repräsentanten (OHR) geschlossen wird, sind entweder nicht gutmütig oder ahnungslos. (Langfassung des Interviews, DER STANDARD, Printausgabe, 26.1.2012)