Waleri Fedorow: "Viel Unzufriedenheit."

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Laut Umfragen wieder im Aufwind: Wladimir Putin bei seinem jüngsten Auftritt im St. Petersburger Michailowski-Theater.

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Aber: Wladimir Putin müsse den Kurs ändern, damit die Gesellschaft nicht weiter auseinanderdrifte.

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Wien - Nach den Massenprotesten in Russland gegen die offensichtlich manipulierten Dumawahlen Anfang Dezember warnte Premier Wladimir Putin in Anspielung an die historischen Umstürze vor einer neuen Revolution. Ähnlich äußerte sich jüngst der orthodoxe Patriarch Kirill. Herrscht in Russland tatsächlich wieder eine vorrevolutionäre Stimmung?

Waleri Fedorow, einer der prominentesten Meinungsforscher Russlands, antwortet im Standard-Gespräch zunächst mit einem russischen Sprichwort: "Wer sich einmal an heißer Milch verbrannt hat, passt selbst beim Wasser auf." Die überwältigende Mehrheit nicht nur der Wähler, sondern auch der Demonstranten sei gegen jede radikale, unkontrollierbare Veränderung.

Die Äußerungen Kirills und anderer sieht Fedorow als Schockreaktion auf das Ausmaß der Demonstrationen, das es seit den frühen 1990er-Jahren nicht mehr gegeben habe. Putins "Stabilität" habe eine sehr geringe Bereitschaft zu öffentlicher Aktivität vermuten lassen. "Als sich dann urplötzlich 100.000 auf einem Platz versammelten, gerieten alle in Panik. Aber natürlich wurden die Gefahren übertrieben. Es gibt keine Gefahr einer Revolution."

Fedorow ist Chef des regierungsnahen Russischen Meinungsforschungszentrums (WZIOM). Am Freitag nahm er in Wien an einem von der österreichischen Initiative Pro Mitteleuropa organisierten Partnerschaftsdialog Zentraleuropa - Russland teil. Dabei präsentierte er auch die neuesten Umfragedaten. Demnach steht Putins Sieg bei der Präsidentschaftswahl am 4. März bereits im ersten Durchgang so gut wie fest. Wäre Mitte Jänner gewählt worden, hätte Putin mindestens 52 Prozent der Stimmen erhalten (Fedorow rechnet die Umfrage auf 56 bis 57 Prozent hoch). Das Interessante dabei ist die wieder steigende Tendenz. Nach den Protesten im Gefolge der Duma-Wahl lag Putin als Präsidentschaftskandidat nur bei 42 Prozent.

Der Aufwärtstrend für Putin wird auch in einer neuen Umfrage der unabhängigen Stiftung für Öffentliche Meinung (FOM) bestätigt. Dort kommt Putin im ersten Wahlgang derzeit allerdings nur auf 45 Prozent.

Den generellen Ansehensverlust Putins verdeutlicht in der WZIOM-Umfrage die Zustimmung zu seiner Arbeit als Premier: 2010 waren es 76 Prozent, Mitte Jänner 2012 waren es 58 - fast 20 Prozentpunkte weniger.

Die Ablehnung Putins ist laut Fedorow denn auch der einzige Kitt der sehr heterogenen Oppositionsbewegung. Sie habe ihren Hauptstützpunkt in Moskau und setze alles daran, Putins Wahlsieg zu delegitimieren. Trotz der noch immer relativ hohen Unterstützung für die Staatsgewalt gebe es ein hohes Potenzial an Unzufriedenheit. "Es herrscht eine ziemlich angespannte sozialpsychologische Situation." Besonders bemerkenswert findet Fedorow jene ganz neue Gruppe von Demonstranten (rund zwölf Prozent), die ihr Engagement mit bürgerlicher Pflicht begründen.

Putin müsse die Forderungen dieser Gruppe (Transparenz, faire Wahlen, Korruptionsbekämpfung etc.) berücksichtigen, meint Fedorow: "Er muss seine Politik korrigieren, damit die Gesellschaft nicht weiter auseinanderdriftet."

Ob und wie Putin die Botschaft verstanden hat, darüber lässt sich anhand seiner jüngsten Ankündigungen spekulieren. Bei einem Auftritt zum 100-Jahr-Jubiläum des Russischen Fußballverbandes im St. Petersburger Michailowski-Theater am Donnerstag versprach er Bier in den Stadien und die Rücknahme der von Präsident Dmitri Medwedew auf Dauer eingeführten Sommerzeit, mit der laut Umfragen 50 Prozent der Russen nicht zurechtkommen. (Josef Kirchengast/DER STANDARD, Printausgabe, 21.1.2012)