"Das ganze Österreich ist auf Sand gebaut und gefährdet, egal, ob im Euroraum oder ohne den Euro."

Foto: Standard/Mayer

"Wenn Sie ein Rührei haben, dann kriegen Sie die Eier, aus denen Sie sie gemacht haben, nicht mehr zurück, da können Sie machen, was Sie wollen."

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"Ich weiß, dass die Österreicher im Moment lieber die reichen Russen haben. Die machen keine Schwierigkeiten, lassen ihr Geld da, saufen Champagner in Kitzbühel, und dann ist wieder alles in Ordnung. Wie es bei denen aussieht, das interessiert die Österreicher nicht."

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"Dem Orban geht der Arsch auf Grundeis, auf Deutsch gesagt."

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"Der Retter der Integration war die Europäische Zentralbank."

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"Europa ist auch ein kollektiver Schutz gegen das Irrewerden einzelner Nationalstaaten."

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"Merkel ist eine kleinkrämerische Politikerin, sie hat Angst vor einer Öffentlichkeit, die sie selbst produziert hat."


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Daniel Cohn-Bendit, 66 Jahre alt, seit 1994 Abgeordneter im Europäischen Parlament, ist gemeinsam mit der Deutschen Rebecca Harms im Duo Fraktionschef der Grünen in Straßburg. Cohn-Bendit, Ikone der 68er-Mai-Revolte in Paris, ist selbst Deutscher und lebt in Frankfurt. Bei den Europawahlen kandidierte er jedoch in Frankreich als Spitzenkandidat, bescherte den französischen Grünen mit mehr als 17 Prozent der Wählerstimmen einen fulminanten Erfolg, nur knapp hinter den Sozialisten. Derzeit ist er einer von vier EU-Abgeordneten, die mit den Regierungsvertretern den Euro-Fiskalpakt ausarbeiten.

Das Interview fand im Pressecafe im Europaparlament in Straßburg statt.

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Viktor Orban habe mit seinem Auftritt im Europaparlament vor allem eines zum Ausdruck gebracht: "Ich will Geld!". Deshalb habe er eingelenkt. Dem ungarischen Premierminister "geht der Arsch auf Grundeis, auf Deutsch gesagt", erklärt der Fraktionschef der Grünen im Europaparlament, Daniel Cohn-Bendit im Standard-Interview in Straßburg. Dennoch habe er es "spannend gefunden", er machte das Parlament zu einem Ort der europäischen Öffentlichkeit. Europa sei ein Schutz gegen das Irrewerden einzelner Nationalstaaten. Als Nächstes will Cohn-Bendit Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel im Plenum in Straßburg als Duo vorladen. Der "Dilettantismus der Regierungschefs" sei Schuld an der Krise um den Euro. Eine echte Gefahr für die Integration Europas durch die Wirtschaftskrise oder durch zunehmenden Nationalismus sieht er dennoch nicht. Dem Euro könne es gut oder schlechter gehen, es möge vielleicht ein Land aus der Währungsunion austreten, "aber grundsätzlich sehe ich nicht, dass Länder wie Deutschland oder Frankreich oder Italien wieder zu nationalen Währungen zurückkehren".

Die Debatte darüber in Österreich sei "kindisch", nicht der Euro, eher sei "ganz Österreich auf Sand gebaut und gefährdet". Die Deutschen und die Österreicher würden immer nur jammern, "dabei haben sie auch nie so richtig eine Revolution gemacht, um sich zu befreien".
Jenseits des Jammerns um die EU findet laut Cohn-Bendit derzeit eine starke "naturwüchsige Integration" statt. Als eigentlichen Retter Europas und der Integration sieht Cohn-Bendit den früheren Chef der Zentralbank, Jean-Claude Trichet, der sich in der Krise "als wahrer Europäer" erwiesen habe, als die Regierungen total unfähig waren: "Er hat gezahlt, und er hat immer gesagt, ihr müsst euch in der Krise mehr integrieren". Merkel und Sarkozy hätten aber gesagt, nein, wir Staaten addieren uns, was falsch sei. Die Wahlen in Frankreich werde aus seiner Sicht Francois Hollande gewinnen, "mehr als die Hälfte der Grünwähler hat sich entschieden, Hollande und nicht der eigenen Kandidatin die Stimme zu geben, um das Schlimmste zu verhindern, die Wiederwahl Sarkozys", sagt Cohn-Bendit, der als EU-Abgeordneter in Frankreich kandidiert hatte und 2009 rund 17 Prozent der Stimmer gewann. Mit Daniel Cohn-Bendit sprach Thomas Mayer.

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Standard: Hat die Wirtschaftskrise das Potenzial, das Projekt Europa zum Bröckeln zu bringen - oder sehen Sie den zunehmenden Nationalismus in den Mitgliedstaaten als das größere Problem?

Cohn-Bendit: Weder noch. Das Hauptproblem ist die Unfähigkeit der politisch Handelnden, der Hauptakteure in den Regierungen. Natürlich ist die Wirtschaftskrise ein Problem. Natürlich sind aufgrund der Krise und der schleppenden Entwicklung die nationalistischen Verhärtungen in den Gesellschaften ein Problem. Aber diese Probleme werden zu einer unüberwindbaren Mauer oder Hürde, wenn die Akteure eine geradezu atemberaubende Unfähigkeit, einen atemberaubenden Dilettantismus an den Tag legen.

Standard: Die Gefahr, dass Europa, die Union rückabgewickelt wird, sehen Sie so überhaupt nicht?

Cohn-Bendit: Nein. Sehen sie, es gibt den Euro. Wenn Sie ein Rührei haben, dann kriegen Sie die Eier, aus denen Sie sie gemacht haben, nicht mehr zurück, da können Sie machen, was Sie wollen. Es kann dem Euro schlecht oder gut gehen, es kann in der Eurozone Krisen geben. Es könnte ein Land aus der Eurozone aussteigen, ja, aufgrund von Entwicklungen in diesem Land. Aber grundsätzlich sehe ich nicht, dass Länder wie Deutschland oder Frankreich, Italien und so weiter wieder zu nationalen Währungen zurückkommen. Das heißt, Europa kann sich nicht rückabwickeln. Es kann im schlimmsten Fall Dinge geben, die ich jetzt nicht einschätzen kann, die aber einzelne, kleinere Länder so in Schwierigkeiten bringen, dass sie aufgrund einer bestimmten politischen Entwicklung in einem Land, einer nationalistischen Entwicklung, einen Selbstmordversuch unternehmen durch Austritt aus der Eurozone.

Standard: Wenn Sie nach Österreich kommen, werden Sie vermutlich überrascht sein, wie stark die Stimmung gegen den Euro zugenommen hat. Viele Leute glauben heute, das ganze Projekt Euro sei auf Sand gebaut, es gehe schief. Das hängt vermutlich auch damit zusammen, dass Österreich jetzt selbst in Schwierigkeiten gekommen ist.

Cohn-Bendit: Das ganze Österreich ist auf Sand gebaut und gefährdet, egal, ob im Euroraum oder ohne den Euro. Das ist ja das Interessante. Ich leugne gar nicht die Schwierigkeiten. Schauen Sie, ich habe da so einen Traum. Wenn die alle sagen, wir müssen raus aus dem Euro, in Österreich, in Frankreich, dann mache ich die Augen zu und sage mir: So, jetzt gehen die sechs Monate raus aus dem Euro. Aber dann, dann schreien die alle nach Mama, oder Papa, und wollen zurück. Das ist so eine kindische Haltung.

Standard: Meinen Sie unreif?

Cohn-Bendit: Ja, einfach kindisch. Warum soll es Österreich, das nicht im Euroraum ist, das heißt also mit Handelsbeschränkungen, mit Grenzen besser gehen?

Standard: Die Kritiker sagen, früher sei es den Österreichern besser gegangen, als es den Eisernen Vorhang gab, rund um das halbe Land.

Cohn-Bendit: Ja, das ist ja wieder was anderes. Damit sagen sie, sie wollen, dass die anderen wieder unter dem Kommunismus leben, dass es nur wenigen Staaten gut geht, den anderen soll es dafür schlechter gehen. Das ist das Phänomen Lega Nord, ein regionaler Egoismus. Zu glauben, wenn man allein ist, kann man sich besser schützen, also ich halte das für kindisch.

Standard: Woher kommt das?

Cohn-Bendit: Ach, es gibt da die Tiefen der Psyche. Und die Deutschen, die Österreicher, die haben ja immer dieses Jammern. Sie haben ja auch nie eine Revolution gemacht, um sich selber zu befreien, so richtig.

Standard: Sie sind ja Deutscher und Franzose sozusagen, gibt es das in Frankreich nicht?

Cohn-Bendit: Das gibt es auch in Frankreich, aber die sagen dann, wir haben auch eine andere Geschichte. Die Deutschen und die Österreicher, die müssen sich immer wieder sagen, die Katastrophe, die sie mit produziert und organisiert haben, die haben sie nicht selber beendet. Sie ist von den anderen beendet worden. Dieses Europa ist aufgebaut, um all das Schreckliche, das in Europa produziert wurde - der Kolonialismus, der Faschismus, der Kommunismus -, um all das wirklich ad acta zu legen und uns gemeinsam dagegen zu feien. Das bleibt immer noch auf der Tagesordnung. Glauben Sie wirklich, dass Österreich allein in der Welt bestehen kann.

Standard: Ich glaube das nicht, aber ich nehme zur Kenntnis, dass es einen politischen Führer der Rechten gibt, Heinz-Christian Strache, und immer mehr Leute dem nachhängen, vor allem Junge, wenn auch nur in Umfragen zunächst.

Cohn-Bendit: Nö, nö, nö, die können auch in Stimmen kommen. So wie bei Marine Le Pen in Frankreich auch. Die wahren Finnen, die wahren Österreicher, die wahren Holländer, das gibt es alles. Das Problem ist, dass das, was die sagen, das müssen die nie beweisen. Sie müssen es nur behaupten.

Standard: Aber das kann Europa Schwierigkeiten machen, sehen Sie das nicht so?

Cohn-Bendit: Sie können auch Österreich Schwierigkeiten machen. Warum immer nur Europa? Wenn Strache an der Regierung wäre, dann würde Österreich Schwierigkeiten haben. Dieser Nationalismus würde nicht funktionieren. Aber ich weiß, dass die Österreicher im Moment lieber die reichen Russen haben. Die machen keine Schwierigkeiten, lassen ihr Geld da, saufen Champagner in Kitzbühel, und dann ist wieder alles in Ordnung. Wie es bei denen aussieht, das interessiert die Österreicher nicht.

Standard: Was ist Ihre Erklärung dafür, dass die Menschen so schnell vergessen, wo wir herkommen, wie fürchterlich dieser Eiserne Vorhang war und wie positiv die Wirkung der europäischen Öffnung für die Menschen ist?

Cohn-Bendit: In den neuen Bundesländern in Deutschland werden Sie 30 bis 35 Prozent der Menschen finden, die sagen, in der DDR früher war es besser.

Standard: Man muss damit leben?

Cohn-Bendit: Es gibt zwei Dinge: In Gefahr und größer Not bringt der Mittelweg den Tod. Und in Gefahr und größer Not verhärtet sich die Erinnerungsfähigkeit der Menschen. Sie träumen sich eine Vergangenheit zurück, ja, es ist so.

Standard: Was ist die Antwort darauf?

Cohn-Bendit: Zu kämpfen, dass die richtigen Entscheidungen getroffen werden, dass diese Krise solidarischer und nicht nur mit rigorosen Sparmaßnehmen bekämpft wird. Dass wieder investiert wird, die Wirtschaft angekurbelt wird, damit die Menschen wieder Arbeit haben. Europa schafft das, was dafür notwendig ist. Dafür muss man kämpfen.

Standard: Sie haben sich diese Woche eine sehr heftige Auseinandersetzung mit dem ungarischen Premier Viktor Orbán im Europäischen Parlament geliefert. Für mich war daran jenseits der Streitfragen um die ungarischen Gesetze ein demokratiepolitischer Aspekt auf der Metaebene interessant, das Faktum, dass überhaupt ein nationaler Premierminister sich freiwillig im europäischen Parlament stellt. Das ist ja eine gewaltige Europäisierung, so was wäre vor fünf Jahren undenkbar gewesen.

Cohn-Bendit: Nein, er sagt in Wahrheit ganz was anderes, "Ich will Geld!". Das ist der einzige Grund. Wenn er nicht in der Situation wäre, dass er mit der EU-Kommission und dem Weltwährungsfonds verhandelt, dann wäre er nicht gekommen.

Standard: Mag sein.

Cohn-Bendit: Mag nicht nur sein, es ist so.

Standard: Aber müssen nicht selbst Sie als einer seiner schärfsten Kritiker ihm zugestehen, dass da eine neue Qualität von europäischer Auseinandersetzung entsteht, auch weil er Fehler einräumt und Zugeständnisse macht?

Cohn-Bendit:
Dass er gekommen ist, fand ich spannend. Das macht das Parlament zu einem Ort der europäischen Öffentlichkeit.

Standard: Ist das nicht toll?

Cohn-Bendit: Doch, das ist toll. Aber den Grund, warum er gekommen ist, den muss man auch nüchtern betrachten.

Standard: Klar.

Cohn-Bendit: Er hat uns instrumentalisiert, und wir haben ihn instrumentalisiert. Weil wenn heute Orbán da ist, dann werden wir morgen Merkozy sagen, kommt mal als Duo ins Europaparlament, jetzt geht's los.

Standard: Merkel und Sarkozy, das ist ja eine gute Idee, laden Sie die beiden doch ein.

Cohn-Bendit: Ja, machen wir auch. Wir haben schon, aber die wollen nicht im Moment. Aber der Orbán ist im Zugzwang. Er hätte gesagt, ihr könnt mich mal alle, wenn nicht die Kommission da gewesen wäre mit den drei Punkten zu Vertragsverletzungsverfahren. Er ist so am Rande des Abgrunds, vor einem halben Jahr hat er noch gesagt, nie wieder Weltwährungsfonds, und jetzt bettelt er um Geld. Das ist ein einfacher Grund.

Standard: Aber doch ist es so, dass zwei EU-Institutionen zusammengespielt haben mit einem Ergebnis, das es so noch nie gegeben hat: dass ein Premier wegen einer innenpolitischen Angelegenheit sich vor der europäischen Volksvertretung direkt rechtfertigen muss.

Cohn-Bendit: Weil Europa auch ein kollektiver Schutz gegen das Irrewerden einzelner Nationalstaaten ist.

Standard: Ist ja eine beruhigende Idee.

Cohn-Bendit: Absolut. Ich finde nur, dass man auch sagen muss, dem Orban geht der Arsch auf Grundeis, auf Deutsch gesagt.

Standard: Warum sind Sie derart kompromisslos hart zu Orbán?

Cohn-Bendit: Weil ich ihn kenne, noch von 1988, 1990. Er war damals genau entgegengesetzt zu dem, was er heute vertritt. Für mich ist Orban ein Mensch, der Hannah Arendt beweist. Sie sagte, ein Mensch ist nie nur gut oder nur schlecht. Er kann in seinem Leben Dinge machen, die wir bewundern, und derselbe Mensch macht zwanzig Jahre später das Gegenteil, Dinge, die man nicht für möglich hielt. Das ist für mich das Faszinierende, in Anführungsstrichen, an Viktor Orbán. Er hat geerbt eine wirtschaftliche Situation, die katastrophal war. Die vorigen Regierungen waren dafür entscheidend verantwortlich. Der Umbau, von dem Orbán gesprochen hat, ist natürlich schwer, und er versucht, diese Schwierigkeiten zu überspielen, indem er den Ungarn ein nationales bis nationalchauvinistisches Selbstbewusstsein geben will. Durch diesen nationalen Überschwang sollen die Probleme überspielt werden. Das braucht er. Also hat er auf Sachen zurückgegriffen, die er vor 20 Jahren nicht einmal in den Mund genommen hätte, zum Beispiel zu sagen, „Wir sind eine christliche Nation". Vor 20 Jahren hätte er von einer offenen Gesellschaft gesprochen, in der das Christentum eine wichtige Rolle spielt, er hätte gesagt, „wir müssen uns öffnen zur Welt" und so. Das alles aber muss er jetzt zurückstellen, er ist ein hochideologischer Mensch.

Standard: Kommen wir zu einem anderen Ihrer Lieblingsfeinde auf der anderen Seite Europas, zu Nicolas Sarkozy. Der sagt seinen Bürgern das Gegenteil, nämlich Frankreich habe so große Probleme, dass es sich stärker nach Europa und vor allem nach Deutschland hinwenden müsse denn je. Das müsste Ihnen doch gefallen.

Cohn-Bendit: Er hat eine Double-Bind-Botschaft. Auf der einen Seite sagt er das. Aber er sagt andererseits auch, "Frankreich ist ein großes Land". Im Verlauf des Wahlkampfes wird sich jetzt etwas entwickeln, was ich National-Präsidentialismus nenne. Die, die gewinnen wollen, müssen Frankreich überhöhen, um zu sagen: "Ich werde den französischen Traum verwirklichen." Das sagt auch Hollande, das sagt Le Pen, das sagt Mélenchon. Wenn Sarkozy auf Europa kommt, dann sagt er gleichzeitig dazu, "dieses Europa muss eines der Regierungen sein". Er macht ein Junktim, indem er sagt, dieses Europa ist Deutschland und Frankreich.

Standard: Was ja nicht von vornherein illegitim ist, oder?

Cohn-Bendit: Es ist nicht illegitim, aber falsch. Es zeigt sich, dass diese Strategie, die er mit Merkel hat, nicht funktioniert.

Standard: Aber bei aller Kritik an Merkozy, über viele Umwege und Widersprüche findet ja trotzdem eine starke Integration statt, vor allem in den vergangenen zwei Jahren, auf kuriose Weise, wenn Sie an die gemeinsamen Eurorettungsmaßnahmen denken.

Cohn-Bendit: Sie haben ja recht, das ist völlig richtig.

Standard: Das hätte sich vor fünf Jahren niemand vorstellen können.

Cohn-Bendit: Ja, wir haben auf der einen Seite eine naturwüchsige Integration. Da sie aber politisch falsch gehandhabt wird, stößt diese Integration an die Grenzen, die eine Naturwüchsigkeit eben hat.

Standard: Sie meinen chaotisch?

Cohn-Bendit: Ich gebe Ihnen ein Beispiel. In der Krise gab es einen wahren Europäer, dessen Freund ich nicht gerade bin - Jean-Claude Trichet. Das in einer Zeit, in der die Regierungen völlig unfähig waren.

Standard: Der rote Dany lobt den früheren Chef der Zentralbank, das müssen Sie erklären.

Cohn-Bendit: So ist es. Er hat bezahlt.

Standard: Er hat das gemacht, was früher der deutsche Kanzler Helmut Kohl und der französische Präsident François Mitterrand gemacht haben, um Europa weiterzubringen.

Cohn-Bendit: Genau. Und er hat immer gesagt, ihr müsst euch in der Krise mehr integrieren. Aber die anderen, die Regierungschefs, haben gesagt, nein, wir addieren uns.

Standard: Ist das nicht eine herrliche Ironie der Geschichte? Die List der Geschichte?

Cohn-Bendit: Absolute Ironie. Der Retter der Integration war die Europäische Zentralbank.

Standard: Und das setzt sich fort, offenbar.

Cohn-Bendit: Aber jetzt haben wir das Problem, für Sarkozy bedeutet Integration nur die Addition von Ländern, und das funktioniert nicht.

Standard: Was wäre die richtige politische Antwort? Jenseits des naturwüchsigen, wie Sie es genannt haben?

Cohn-Bendit: Wir müssen die Europäische Kommission als Wirtschaftsregierung so stärken, dass die Länder ihre Haushaltssanierung gemeinsam umsetzen können. Die Kommission muss die Möglichkeit haben, über einen eigenen europäischen Haushalt zu verfügen, mit Eigeneinnahmen, europäische Anleihen inbegriffen. Die Länder dürfen nicht erdrückt werden von der Schuldenlast. Was ich bei Frau Merkel am faszinierendsten finde, da gibt es die fünf deutschen Wirtschaftsweisen, die verfassungsmäßig beauftragt sind, die Regierung zu beraten. Die haben einstimmig einen Vorschlag gemacht, einen Schuldentilgungsfonds einzurichten. Frau Merkel hat genau 17 Minuten gebraucht, um zu sagen, „nein, das wird nicht funktionieren". Sie hat es nicht einmal im Kabinett diskutieren lassen. Dabei ist der Schuldentilgungsfonds das Modell für die Deutsche Einheit gewesen.

Standard: Woher kommt diese Angst der Frau Merkel vor dem großen Schritt?

Cohn-Bendit: Weil sie eine kleinkrämerische Politikerin ist, sie hat Angst vor einer Öffentlichkeit, die sie selbst produziert hat.

Standard: Hätte Helmut Kohl Ihrer Einschätzung nach heute als Kanzler gesagt, wir gehen den nächsten großen Schritt zur europäischen Integration?

Cohn-Bendit: Ich sage es anders, wenn eine Person wie Frau Merkel vor 20 Jahren in einer Situation wie der Vereinigung Deutschlands gewesen wäre, nach der Revolution in der DDR, wenn dann der französische Präsident Francois Mitterrand gesagt hätte, nur unter der Bedingung der Vertiefung Europas, Merkel hätte nein gesagt.

Standard: Sie hätte sich verzettelt?

Cohn-Bendit: Sie hätte Nein gesagt.

Standard: In den kommenden Tagen soll der Eurofiskalpakt vereinbart werden. Sie sind mit anderen Abgeordneten in der Verhandlungsgruppe. Was ist zu erwarten?

Cohn-Bendit: Es klemmt unglaublich, das Problem ist, dass die Regierungen die Gemeinschaftsinstitutionen wie das Parlament und die Kommission nicht ernst nehmen. Es gibt einen völlig unübersichtlichen Diplomatenapparat und ein völlig unübersichtliches Verfahren.

Standard: Wie läuft das ab?

Cohn-Bendit: Ganz einfach, jede Seite hat drei Vertreter, da wird von 10 Uhr Vormittag bis 18 Uhr abends herumdiskutiert, in einzelnen Fragen Konsens hergestellt, und dann kommt vom Vorsitz ein neuer Text, und plötzlich ist der Konsens gar nicht mehr drinnen.

Standard: Warum leitet das Europäische Parlament nicht ein Verfahren zur Einberufung eines ordentlichen europäischen Konvents ein?

Cohn-Bendit: Die Lösung der Krise jetzt kann ein Konvent nicht bringen, das dauert zu lange. Aber das Parlament wird das machen, das ist aber dann eine mittelfristige Lösung. Heute, jetzt, geht es darum, dass wir im Rahmen des bestehenden Vertrages viel mehr machen. Wir Parlamentarier werden versuchen, Vorschläge zu machen und umzusetzen. Wenn wir die Krise stabilisiert haben, dann müssen wir in einem Konvent und die Veränderung der EU-Verträge öffentlich diskutieren.

Standard: Geplant ist, dass der Fiskalpakt beim nächsten EU-Gipfel in einer Woche zugemacht wird, wie soll das gehen?

Cohn-Bendit: Ich erzähl Ihnen mal was. Gestern Abend wurde unter der Hand ein neuer Text verteilt, nach der vierten Verhandlungsrunde. Zwei Stunden später hieß es, der Text ist zurückgezogen. Das ist alles absurd. Wissen Sie, wenn man öffentlich diskutiert, wenn es Anträge gibt, dann wäre das aufgrund der Öffentlichkeit viel transparenter. Aber hier haben wir ein Diplomatengewurschtel. Es wird gemauschelt, dann kommt der Diplomat soundso, dann ruft das Kanzleramt an, Faymann darf auch zwei Worte sagen, und das ist alles.

Standard: Was wird daraus werden?

Cohn-Bendit: Sie wollen die verfassungsmäßige Verankerung der Schuldenbremse, aber die Niederlande, Dänemark und Finnland können aber nicht. Die werden nur ein Gesetz machen, aber das ist keine Verfassungsbestimmung, das kann man jederzeit ändern. In Frankreich dasselbe, weil Sarkozy über keine Verfassungsmehrheit verfügt. Wir diskutieren über eine Fata Morgana. Wir verlieren nur Zeit. Genau das hat Standard & Poors ja gesagt, die Europäer sind nicht fähig, die richtigen Entscheidungen zu treffen, nicht nur bei der Haushaltsstabilität, sondern auch bei anderen Sachen. Das ist das Problem, Dilettantismus der Regierungen.

Standard: Die Grünen in Österreich wollen den Fiskalpakt und die Schuldenbremse blockieren, ein Veto einlegen, wenn nicht gleichzeitig Eurobonds und wachstumsfördernde Maßnahmen beschlossen werden. Ist das eine gute Idee?

Cohn-Bendit: Ja, in Frankreich sollten sich Sarkozy und Monti in dieser Sache an einen Tisch setzen. Monti ist ja auch dagegen. Die müssten alle sagen, wir können die Schuldenbremse nur machen, wenn auch andere Dinge gemacht werden. Dann wird die deutsche Bundesregierung einknicken. Man muss Bündnispartner suchen in Europa. Faymann muss sich mit Italien mit Monti zusammensetzen.

Standard: Der setzt sich aber offenbar lieber mit Merkel zusammen und sagt, Österreich macht das, was Deutschland macht.

Cohn-Bendit: Das ist einfach absurd, weil die Deutschen etwas falsches machen.

Standard: Wie kommt man wieder aufs Gleis zurück, noch dazu wenn in Frankreich in drei Monaten Präsidentenwahlen stattfinden?

Cohn-Bendit: Ich glaube Hollande wird gewinnen, die Abneigung in der Bevölkerung gegen Sarkozy ist sehr groß, alles, was er versucht, klappt nicht. Aber ich gebe zu, wir sind drei Monate vor den Wahlen, da kann das alles noch dreimal kippen.

Standard: Der liberale Bayrou ist stark, Eva Joly kandidiert für die Grünen, besteht die Gefahr, dass Hollande nicht die Stichwahl erreicht, wie Jospin 2002?

Cohn-Bendit: Es ist eher umgekehrt, im Moment besteht die Gefahr eher für Sarkozy, er ist gefährdet. Eine Stärkung von Bayrou und dazu von Marine Le Pen bedeutet eine Schwächung von Sarkozy, weil sich das im rechten Lager abspielt. Die französischen Grün-Wähler haben sich in der Mehrheit entschieden, strategisch für Hollande zu stimmen und nicht für ihre eigene Kandidatin. Sie wollen das Schlimmste verhindern, und das wäre eine Wiederwahl von Sarkozy mit einer starken Rechten.

Standard: Wie kommt Europa wieder ins Gleichgewicht, kann man auf Beruhigung erst wieder nach den französischen Wahlen im Juni rechnen?

Cohn-Bendit: Wenn bestimmte Krisenentwicklungen sich verschärfen, dann könnte plötzlich etwas möglich sein, was vier Wochen vorher noch undenkbar schien. Ich glaube, dass die deutsche Position nur auf Haushaltsstabilität zu setzten, auf Dauer nicht durchzuhalten sein wird. In welchem Moment das kippt, das kann ich Ihnen heute nicht sagen. Aber ich bin felsenfest davon überzeugt, es wird noch vor den französischen Wahlen passieren. (Langfassung des in DER STANDARD, Printausgabe, 21.1.2012 erschienenen Interviews)