"Die Preisträger setzen die Kommunikation der andern in Gang": Peter Sloterdijk und Regina Haslinger in Wien.

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Immer wieder treten Einzelne als Anwälte auf für andere, die nicht für ihre eigenen Interessen eintreten können. Für sie wurde eine neue Auszeichnung geschaffen, der Myschkin-Preis. Am 30. Jänner wird er im Pariser Théatre de l'Odéon gleich mehrfach vergeben.

Für sein Lebenswerk wird der französische Diplomat und Autor Stéphane Hessel (Empört euch!) geehrt. Auf ihn wird Daniel Cohn-Bendit die Laudatio halten. Thomas Macho wird über den österreichischen Tierrechte-Aktivisten Martin Balluch sprechen, der für sein Work in Progress ausgezeichnet wird. Und der italienische Psychotherapeut Gaetano Benedetti bekommt einen Sonderpreis für seine Arbeit mit schizophrenen Patienten, überreicht von Julia Kristeva.

Neben der Verlegerin Maren Sell in Paris, dem Medienphilosophen Peter Weibel (Karlsruhe), dem Amsterdamer Verleger René Gude und dem Unternehmer Jozsef Bugovics (Leipzig) gehören Regina Haslinger und Peter Sloterdijk zum Gründungskomitee des Preises.

STANDARD: Wie kam es zu dem Myschkin-Preis?

Sloterdijk: Der Ausgangspunkt für die Preisstiftung war ein Gespräch im Herbst 2010 über Gaetano Benedetti. Wir fragten uns, was kann man machen, um so einen in Vergessenheit geratenden Menschen auf die Bühne zu heben.

Haslinger: Wir haben seine Mitarbeiter kontaktiert. Sie sind froh, dass man endlich wieder fragt, was aus ihm geworden ist. Benedetti hat sich intensiv der Behandlung schizophrener Patienten gewidmet und betont, dass es gerade bei schwierigen psychotischen Patienten nur darum geht, dass der Therapeut sich mit dem Patienten identifiziert und nicht umgekehrt. Er beschreibt, wie stark diese Einfühlung sein kann. Es wundert auch nicht, dass er ein Buch mit dem Titel Der Geisteskranke als Mitmensch geschrieben hat.

STANDARD: Warum haben Sie den Preis nach dem Prinzen Myschkin, der Romanfigur aus Dostojevskys Idioten, benannt?

Sloterdijk: Eine Zeitlang wollten wir ihn nach dem schönen Motto der holländischen Aufklärung, Felix Meritis, Glückselig durch eigenes Verdienst, benennen. Doch das ist zugleich eine Institution in Amsterdam, und da wäre es zu Friktionen mit den Rechteinhabern gekommen.

Wir haben uns dann entschieden, in die Welt der Fiktion auszuweichen, und haben den Romanhelden zum Namensgeber gewählt. Die Resonanz war zunächst ein wenig überrascht, aber im zweiten Augenblick sehr zustimmend, weil man merkt, dass diese Figur tatsächlich etwas in sich hat, was eine Frage an die gegenwärtige Gesellschaft beinhaltet. Wir lassen den Idioten keinen Idioten mehr sein, sondern begleiten den ewigen Jüngling ins Erwachsenenalter. Man fragt sich: Was wäre aus ihm in den letzten 150 Jahren geworden? Die Preisträger sind allesamt Menschen, die einen Myschkin-Faktor haben. Sie sind Katalysatoren, die die Kommunikation der Anderen in Gang setzen.

Das gilt für Hessel, der einen der erstaunlichsten Lebensläufe hat, die man im 20. und im Übergang zum 21. Jahrhundert haben kann: Insasse eines Konzentrationslagers, befreit, integriert in ein Komitee der provisorischen französischen Regierung, in der Redaktion der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte - also vollkommen abenteuerlich. Er selber ist ein charmanter Kosmopolit, spricht mehrere Sprachen nicht wie, sondern als seine Muttersprachen.

STANDARD: Woher kommt das Geld für den Preis?

Sloterdijk: Das sind Freundesspenden. Die sechs Personen des Komitees haben beschlossen, jeweils 10.000 Euro einzulegen. Es soll eine Privatinitiative bleiben, wobei wir natürlich darauf angewiesen sind, dass im Lauf der Zeit Stiftungen und weitere Mitglieder zu uns finden. Aber wir wollen den privaten Charakter aufrechterhalten. Freunde haben geholfen. Der Direktor des Theatre de l'Odeon hat uns das Haus für den Abend zur Verfügung gestellt, der Künstler Neo Rauch hat die Statuetten angefertigt, die sind auch schon gegossen.

Haslinger: Alle machen das rein auf Ehrenbasis, jeder gibt, was er geben kann. Die Gestaltung des ganzen Programms in Paris wird ehrenamtlich ablaufen. Die Schauspielerin und Sängerin Angela Winkler kommt für eine Liedbeigabe extra aus Deutschland, die französische Journalistin Laure Adler wird moderieren.

STANDARD: Das Moment der Freiwilligkeit erinnert an Ihre Anregung vor kurzem, dass die Steuern durch sozusagen zweckgebundene Gaben der Bürger ersetzt werden sollten. Dazu sagten Sie auch, dass dann wohl sehr viel Geld beim Tierschutz landen würde.

Sloterdijk: Und viel Geld auch im Bildungswesen. Bei der Armee würde wohl gespart werden und bei weniger beliebten Teilen der Universität. Aber das muss man nicht so konkretistisch durchdenken, denn es ging ja zunächst nur darum, dass man den Menschen die Möglichkeit gibt, durch ein kleines Segment ihrer Steuerlast dieser den Charakter einer Anlage zu geben.

Haslinger: In Schweizer Kantonen geschieht das zum Teil. Sie haben auch inhaltlich viel Einfluss auf Projekte und werden dazu aufgefordert abzustimmen. Sie sind für mich das einzige Land, das eine Demokratie lebt.

STANDARD: Wie haben Sie die Laudatoren bestimmt?

Sloterdijk: Abgesehen von Hessel, der letztes Jahr über Nacht ultraberühmt geworden ist, soll eine bekannte Person einer weniger bekannten den Preis spenden. Oder es ist so, dass es eine inhaltliche Entsprechung gibt.

STANDARD: Weil zum Beispiel Thomas Macho, der über den Tierschützer Martin Balluch sprechen wird, auch über Tiere geschrieben hat?

Haslinger: Natürlich. Er hat lange Zeit über das Thema Mensch/Tier Vorlesungen gehalten. Und für die Ausstellung "Herausforderung Tier", die ich vor mehreren Jahren kuratiert habe, hat er den Beitrag Der Aufstand der Haustiere geschrieben. Er ist auf jeden Fall für die Laudatio geeignet.

STANDARD: Wie hat sich eigentlich der Preis an Balluch für ein work in progress ergeben?

Sloterdijk: Also Benedetti stand von vornherein fest, weil er ja der Anker für die ganze Idee war. Dann haben wir an Zweite und Dritte gedacht. Hessel ergab sich schnell. Der Name Balluch kam ins Spiel, als wir beschlossen, Preise in drei Kategorien zu vergeben.

Haslinger: Es war ein Ziel, dass wir die Spenden öffentlich machen, damit wir mit den so Ausgezeichneten Themen lancieren können, die es wert sind, diskutiert zu werden. Balluch ist in Österreich drei Jahre verfolgt worden. Er verdient es, entschädigt zu werden. Es geht um Tierschutz, und es ist auch ein demokratisches Grundprinzip, das hier infrage gestellt wurde: wie nämlich eine kleine, natürlich lästige Gruppe von Tierschutzaktivisten - ich war oft dabei, ich kenne die Szene gut -, ein derartiges Ärgernis für die betroffenen Geschäfte wurde, dass diese Druck auf das Innenministerium gemacht haben. Dann den Mafia-Paragrafen zu verwenden: Das war haarsträubend. Auffallend war, dass auch von Intellektuellen wenige Gegenstimmen zu hören waren. Dabei wurde ein demokratisches Recht mit Füßen getreten.

STANDARD: Herr Sloterdijk, wenn man eine wenig Psychohistorie probiert: Sie haben einmal auf Ihre schwere Krankheit hingewiesen, als Sie ganz klein waren, auf Ihre vaterlose Kindheit, also dass Sie vielleicht besonders schutzbedürftig waren. Und darauf, dass Ihre Jahre beim Baghwan im indischen Pune für Sie wichtig waren. Kann darin angelegt worden sein, dass Sie sich für die Fragen des Tierschutzes interessieren?

Sloterdijk: Der Hinweis auf Indien ist schon triftig. Dort erlebt man eine andere Grundstimmung, auch in anderen Kulturen, wo diese Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, wie sie für die europäische Kultur wichtig ist, nicht vollzogen worden ist. Wo also die Tiere in die Metaphysik mitgenommen worden sind. Bei uns sind sie auf den Status von Dingen reduziert worden.
Einflüsse auf mich bestanden auch in der älteren Kritischen Theorie.

Haslinger: Adorno und Horkheimer haben sich wiederholt gegen die Experimente mit Tieren ausgesprochen. Und Derrida hat gegen Ende seines Lebens über Tiere nachgedacht und geschrieben. Canetti auch: Das Einzige, hat er geschrieben, was ihn noch beeindrucke, seien die Tiere. Er wünschte sich einen Aufstand der Tiere.

Sloterdijk: Adorno war ein Denker der Empfindlichkeit, das ist mehr als bloße Ästhetik. Dieser Überschuss ist der allgemeine Respekt vor dem Opfer, ein aufmerksam Sein für den Status von empfindlichen und überempfindlichen Geschöpfen.

STANDARD: In Sachen Tierschutz in Österreich haben Sie schon vor mehr als zehn Jahren sehr engagiert und meines Erachtens sehr optimistisch prognostiziert, dass die Jüngeren die Tiermisshandlungen, die industrielle Fleischproduktion nicht mitmachen werden.

Sloterdijk: Mentalitätsentwicklungen zu prognostizieren ist sehr schwer. Mir schien es damals evident zu sein, dass es die Schulabsolventen mit einer anderen Lehrerschaft, einer anderen Ernährungsaufklärung zu tun hatten. Ich denke nach wie vor, dass sich, vielleicht nicht so rapide, wie ich gedacht hatte, ein Trend zur diätetischen Aufklärung durchsetzen wird.

STANDARD: In Sachen Rechte für Tiere ist ja Peter Singer, der Ethik-Professor an der Princeton Universität, sehr bekannt geworden. Wie stehen Sie zu ihm?

Sloterdijk: Ich war vor fünf Jahren mit ihm an der Stanford Universität, wir haben uns mit biopolitischen Themen befasst. Da hat er mir einen sehr vernünftigen und durchdachten Eindruck gemacht. Er ist reiner Ethiker - keine Erkenntnistheorie, keine Ontologie oder Ästhetik. Er hat es schwer gehabt, weil sich überall Betroffenengruppen bildeten, die sich gegen die Konsequenzen wandten, die aus seinen Überlegungen folgen könnten. Er hat sich zum Beispiel Gedanken gemacht über Geschöpfe mit allerschwersten Malformationen bei der Geburt, die ohne Gehirn auf die Welt kommen. Da sollten die Menschen ein Tötungsrecht haben oder zumindest keine Pflicht zur Lebensverlängerung um jeden Preis. Dagegen wurde mit dem Euthanasie-Vorwurf argumentiert, wobei die Leute nicht bereit sind, sich den Sachgehalt seiner Argumente anzuschauen. Und Singer hat etwas, was man sonst nur bei großen Ärzten kennt: Er hat einen operativen, technischen Zugang zu quasi jedem Problem, auch zu den abseitigsten, schwierigsten Fragen. Er schaut sich alles an, auch die allerunangenehmsten Sonderfälle, und lässt sich auf Dinge ein, an denen sich andere Leute vorbeischummeln, um sich ein harmloseres Weltbild bewahren zu können.

STANDARD: Sind Sie Vegetarier?

Sloterdijk: Nein. Aber wir schränken den Fleischkonsum ein wenig ein.

Haslinger: Also sehr. Ich bin fast Vegetarierin. (Michael Freund, DER STANDARD - Printaugabe/Langfassung, 21./22. Jänner 2012)