Im Sommer am Donaukanal radeln, oder in Ljubljana... In mehr als 60 Städten weltweit hat sich das Citybike Wien-System durchgesetzt.

Foto: Gewista

"Hallo, ich rufe wegen dem verschwundenen Fahrrad von vor drei Jahren an." - "Ja, ich kann mich erinnern ..." - "Das habe aber gar nicht ich gestohlen, das ist nämlich mir gestohlen worden." - "Aha." - "Jetzt ist es wieder aufgetaucht, und die Richterin hat gesagt, ich soll es zurückgeben." - "Wo ist es denn aufgetaucht?" - "In meinem Keller. Ich weiß auch nicht, wie ..."

Bei der Rückgabe des Fahrrades fragte der Reuige dann nach einem Job bei Citybike Wien. Daraus wurde nichts, "die Vertrauensbasis war leider nicht gegeben", sagt Projektmanager Hans-Erich Dechant. Der Hochradbauer und Aktivist in der Fahrrad.Selbsthilfe.Werkstatt des WUK ist ein "Urgestein" der Wiener Fahrradszene und vielen auch als "HAE" bekannt.

"Viel geschlafen habe ich nicht"

Ende Jänner 2003 war es, als die Gewista den Zuschlag für ein Fahrradverleihsystem in Wien bekam. Dechant erhielt im März den Auftrag, bis Mai ein elektronisches Sicherheitssystem auf die Füße zu stellen, das den Ansprüchen von Nutzern und Anbietern genügt. "Viel geschlafen habe ich in dieser Zeit nicht", erzählt Dechant. Es habe zwar bereits einen Prototyp für das Terminal im Labor gegeben, allerdings mit unkomfortabler Bedienung.

Die entscheidende Idee kam von Gewista-Projektleiter Dieter Matuschek: die Fahrrad-Entlehnung mittels einer Karte, die man ohnehin in der Tasche trägt - also Bankomat- oder Kreditkarte. Darüber hinaus kann man auch eine eigene Citybike-Wien-Card oder eine Touristenkarte in Anspruch nehmen.

Learning by doing

Als im Mai 2003 die erste Citybike-Wien-Station eröffnete, entlieh der damalige Verkehrsstradtrat Rudi Schicker (SPÖ) medienwirksam das erste Rad. Hans-Erich Dechant erzählt: "Ich stand mit dem Handy im Hintergrund und habe laufend das IT-Büro informiert: Jetzt drückt er auf diesen Knopf ... jetzt auf diesen ... Es ist alles gutgegangen."

Allerdings nicht für alle Menschen, die in den Anfängen Räder ausleihen wollten. "Da wir nur zwei Monate Zeit für die Entwicklung hatten, war das System nicht perfekt. 20 Prozent der Entlehnungen haben mit einer Fehlermeldung geendet. Die Nutzer haben dann sofort bei uns angerufen. Und das war gut so!", sagt Dechant. "Zum einen war die Entwicklung des Systems während der Nutzung eine unserer Stärken, zum anderen haben wir dadurch in der Startphase eine gute Bindung zu unseren Nutzern erhalten."

Heute rufe dagegen kaum noch jemand an, wenn eine Störung auftrete. Die Betroffenen gehen einfach zur nächsten Station. Was bei derzeit 92 Standplätzen in Wien relativ einfach ist. Auf Störungen muss das Citybike-Wien-Team nun meist selbst draufkommen. Im Sommer fahren sieben Servicetechniker - darunter seit 2011 auch zwei Technikerinnen - mit dem Fahrrad täglich 80 Prozent der Stationen ab, im Winter wird jede Station durchschnittlich einmal pro Woche besucht.

Von Mai bis Oktober 2012 werden drei zusätzliche Servicetechniker engagiert. Sie überprüfen die Räder und Terminals, führen Reparaturen in der Liesinger Werkstatt durch und sorgen für die Verteilung der Räder. "Man muss Fahrräder reparieren können, den B-Führerschein und Verständnis für IT haben", wendet sich Dechant an alle Interessierten.

Verschwundene Räder

11.000 Anrufer wählten im Jahr 2011 die Citybike-Wien-Hotline. Mittlerweile kümmern sich die Mitarbeiter eines Callcenters um die Anliegen. Spezielle Themen landen aber nach wie vor bei Dechant und seinem zweiköpfigen Team im Büro in Wien-Landstraße.

Oft geht es um "verschwundene" Räder. Ein Klassiker: "Ich hab' so dringend aufs WC müssen und das Rad unabgesperrt vor dem Lokal stehen lassen, und eine Minute später war es weg." - "Wir finden es wieder", beruhigt Dechant. Nur vier von 1.400 Rädern sind 2011 nicht mehr aufgetaucht.

Verantwortung wird großgeschrieben. "Jeder haftet für das Rad, das er ausborgt. Das ist auch der Grund, warum das Ganze funktioniert." Ein verlorenes Rad kann bis zu 600 Euro kosten.

Das erste System seiner Art

In mehr als 60 Städten weltweit hat sich das Citybike-Wien-System bis heute durchgesetzt. Niemand behauptet, dass es das erste Fahrrad-Verleihsystem weltweit sei, es ist allerdings das erste seiner Art: Die persönliche Anmeldung an einem Terminal mit einer geläufigen Karte, ein Tarifsystem für kurze Gratisfahrten und höhere Preise für längeres Entlehnen sowie die hohe Verfügbarkeit der Räder sind in Wien erstmals realisiert worden. Weshalb in den letzten Jahren Delegationen aus Paris, Dublin und dem australischen Brisbane nach Wien gekommen sind, um das Citybike-Wien-System zu begutachten und zu übernehmen. Erst 2011 ist ein weiteres System in Ljubljana eröffnet worden.

Die Räder im Donaukanal

Bereits ein Jahr vor Citybike Wien, 2002, war Wien Leihradstadt. Das idealistische, weil auf Vertrauen basierende Projekt Viennabikes hielt sich aber nicht lange, wenn auch wesentlich weniger Räder im Donaukanal landeten als medial propagiert: "Die meisten Räder sind nach etwa drei Wochen wieder zu uns zurückgekehrt", sagt Dechant, der bereits bei diesem Projekt für die Logistik verantwortlich war. "Viennabikes war wichtig. Es hat bewiesen, dass die Zeit für Leihräder in Wien reif war, und das Thema Fahrrad in der Stadt medial eröffnet." Viel gelernt habe man daraus, etwa dass nicht nur die Motivation, ein Fahrrad auszuleihen, gegeben sein muss, sondern auch die, es wieder zurückzubringen.

Die Regeln

Die Regeln für die Entlehnung eines Fahrrades über Citybike Wien sind einfach: Man meldet sich persönlich für die Entlehnung an, zahlt für die erste Stunde nichts, für die weiteren Stunden proportional mehr und haftet für den Verlust des Fahrrads. Die meisten Radler nutzen das Gratisangebot. "Zwölf Minuten ist unsere häufigste Entlehndauer", sagt Dechant. Für stundenlange Fahrten ist das Citybike nicht konzipiert. "Es ist für urbanes Radfahren kurzer Distanzen von A nach B gedacht, und wir wollen auch nicht in Konkurrenz mit den klassischen Fahrradverleihen treten."

Citybike-Stationen in dicht besiedelten Bezirken mit rund 15.000 Einwohnern pro Quadratkilometer machen für Dechant und sein Team Sinn. "Bei Bezirken wie Floridsdorf oder Donaustadt mit 2.500 bis 3.000 Einwohnern pro Quadratkilometer funktioniert unser System nicht", erklärt er. "Die Leute fahren mit der U- oder Schnellbahn in die inneren Bezirke zur Arbeit, und da stehen wir mit unseren Rädern bereit." 1.400 Räder gibt es derzeit an 92 Stationen. Was die Förderung durch die Stadt Wien betrifft, soll per Vertrag bis 2015 auf 120 Stationen ausgeweitet werden. Eine Vorgabe, die Dechants Ambitionen nicht gerecht wird: Er will diese Zahl bis zur Velocity - also bis Juni 2013, wenn die internationale Fahrradkonferenz in Wien gastiert - erreichen. "Das Ziel ist Verdichtung."

In Konkurrenz mit dem Altglascontainer

"Zuerst muss es einen öffentlichen Wunsch geben", erklärt Dechant auf die Frage, wie eine neue Citybike-Wien-Station entsteht. "Entweder wenden sich Anrainer an einen Bezirksvertreter und dieser in der Folge an uns. Oder der Bezirk, der seine neuen Citybike-Wien-Stationen übrigens auch mitfinanziert, tritt selbst an uns heran."

Der Bezirk kontaktiert Fahrradkoordinator Franz Blaha. Gemeinsam erkundet man, ob ein geeigneter freier Platz gegeben ist. Ein Antrag wird eingereicht, dann folgt eine Verhandlung, und am Ende steht im besten Fall eine Genehmigung. Dann können die Bauarbeiten beginnen. Die Stadt Wien - konkret die MA 28 - bietet finanzielle Unterstützung. 

Nach achteinhalb Jahren ist Citybike Wien etabliert und akzeptiert, aber die freien Flächen in der Metropole sind knapp bemessen. "Wir haben auch schon gegen Altglascontainer verloren", bedauert Dechant, "und auch gegen Autoabstellplätze." Obwohl er doch  ein unschlagbares Argument ins Feld führt: "Tatsache ist: Eine Citybike-Wien-Station hat eine wesentlich höhere Nutzungsintensität als ein Autoabstellplatz." (Eva Tinsobin, derStandard.at)