Foto: DER STANDARD/Montage: Ladstätter/Beigelbeck

Im Wiener Stephansdom fehlt derzeit am Beichtstuhl ein wichtiges Hinweisschild: "Jugendverbot - for adults only!"

Dies wäre jedenfalls die Konsequenz, würde die Erzdiözese ihren eigenen Richtlinien für „Maßnahmen, Regelungen und Orientierungshilfe gegen Missbrauch und Gewalt" ernst nehmen. Die von allen österreichischen Bischöfen in Kraft gesetzte Rahmenordnung sieht vor: „Pädophile Missbrauchstäter werden keinesfalls weiter Pastoral eingesetzt, wo der Kontakt zu Kindern und Jugendlichen gegeben ist."

Man ist sogar so vorsichtig, einen weiteren Einsatz für Missbrauchstäter selbst nach einer Therapie auszuschließen, weil "eine relativ hohe Rückfallquote gegeben ist." In Verdachtsfällen wird bis zur Klärung mit einer Dienstfreistellung gearbeitet.

Freilich ist nicht alles schwarz-weiß. Schwierig ist die Situation in Fällen, wo eine letzte Klärung nicht gegeben ist. Fälle sind verjährt, Aussagen stehen gegen Aussagen. Trotzdem müssen die Verantwortlichen handeln. Im Zweifel muss wohl, versteht man den Opferschutz richtig, ein Seelsorgeeinsatz unterbleiben.

Der konkrete Fall liegt in dieser Grauzone. Es gilt daher die Unschuldsvermutung im rechtlichen Sinne. Was aber die Kirche trotzdem nicht davon entbindet, Vorsichtsmaßnahmen zu setzen: Gegen einen Pfarrer wurden Vorwürfe des sexuellen Übergriffes vorgebracht. Der behauptete Zeitpunkt liegt Jahrzehnte zurück. Das Jugendlager war der Ort des mutmaßlichen Übergriffes. Immerhin sind es gleich drei mittlerweile erwachsene Männer, die Anschuldigungen erheben. Der Pfarrer bestreitet. Die diözesane Ombudsstelle diagnostiziert jedoch einen erhärteten Tatverdacht.

Auch von der Diözesanleitung wird der Sachverhalt als so gravierend eingestuft, dass eine Abberufung des Pfarrers im Raum steht. Nun folgt die kirchlich gängige Lösung: Da der Pfarrer ohnehin im pensionsfähigen Alter ist, wird er gedrängt, von seinem Amt zurückzutreten (dass der kirchenrechtliche Fachterminus dafür „Resignation" heißt, passt da gut ins Bild). Nach außen hin wird der Schein gewahrt, was angesichts der Grauzone vielleicht sogar seine Berechtigung hat. Richtig und wichtig ist das präventive Fernhalten des Priesters von der Jugendseelsorge.

Doch die Diözesanleitung agiert inkonsequent. Dieser Priester fungierte nämlich schon lange regelmäßig als Beichtpriester im Stephansdom - und darf dieses Amt behalten. Vom "dauernden Ruhestand", wie das amtliche Diözesanblatt verkündete, ist also nicht die Rede.

Gerade die Beichte ist aber als das intimste und sensibelste Sakrament am meisten in Gefahr, zum Ort der Abhängigkeit und des Übergriffes zu werden. Es war wohl pastorale Klugheit, dass es in alten Zeiten Vorschrift war, ein Beichtstuhl habe im öffentlichen Kirchenraum zu stehen und Priester und Beichtende seien durch ein Gitter zu trennen.

Die heutigen Beicht- und Aussprachezimmer, wie auch in St. Stephan eingerichtet, bieten zwar die angenehmere Gesprächsatmosphäre und bessere pastorale Rahmenbedingung, bringen aber - was den Missbrauch und Übergriff angeht - höhere Risiken mit sich. Schon der Kirchenlehrer (und Patron der Schriftsteller) Franz von Sales formulierte im 17. Jahrhundert über die Wahl eines "Seelenführers", den er für ein frommes Leben für notwendig hielt: "Suche dafür einen aus zehntausend. Denn es finden sich weniger, die für diese Aufgabe geeignet sind, als man meinen möchte."* (Das klingt nicht gut, in Österreich stehen nämlich nur etwas mehr als 4.000 Priester zur Verfügung).

Wie sensibel die Kirche das Bußsakrament einschätzt, erkennt man auch daran, dass ein Priester die Beichtvollmacht eigens vom Bischof erhalten muss (CIC cann. 969-973), und diese auch gesondert entzogen werden kann (CIC can. 974).

Für den Umgang mit 2010 erlassenen Richtlinien zum Opferschutz ist wohl eine große Evaluation angesagt, um deren Wirksamkeit zur prüfen. Der konkrete Fall weist zudem auf ein Grundsatzproblem der kirchlichen Verfassung: Der Bischof ist kirchlicher Richter, Gesetzgeber und Seelsorger in einem. Er hat sich um die Gläubigen zu kümmern und ist gleichzeitig disziplinärer Chef seiner Priester. Es hat auch seine "strukturellen Bedingungen", dass in der Kirche so lange die "Täter mehr geschützt wurden als die Opfer", wie auch das Maßnahmen-Papier der Bischöfe analysiert. Für Opferschutz und Prävention wäre ein wenig kirchliche Gewaltenteilung sicherlich segensreich.

Schließlich ist dieser Vorgang auch ein Beispiel für die stets schwankende Haltung des Wiener Erzbischofs, der in Grundsatz-Erklärungen immer eine unmissverständlich klare Haltung zugunsten der Opfer einnimmt (was man eigens loben muss), in der Praxis aber - insbesondere wenn es um Priester geht - häufig herumlaviert (aber davon ein andermal).

Im konkreten Fall besteht jedenfalls dringender Klärungsbedarf, warum zwar eine Abberufung als Pfarrer angezeigt war, der Beichtdienst aber aufrecht bleibt. Wenn auch das Klientel zu St. Stephan überwiegend ältere Menschen sind, kann bei der ersten Adresse der Stadt nie ausgeschlossen werden, dass hier Jugendliche Rat und Hilfe suchen.

In der Zwischenzeit muss wohl die eingangs erwähnte Beichtwarnung für St. Stephan aufrecht bleiben.

PS.: Nebenfrage: Warum scheint im Beichtplan zu St. Stephan neben dem Dompfarrer Toni Faber kein einziger der elf weiteren Domkapitulare als Beichtpriester auf - deren Qualifikation steht doch hoffentlich außer Zweifel.

PPS.: Im Übrigen bin ich der Meinung, dass die Verantwortung der Päpste und des Vatikans am internationalen Missbrauchsskandal geklärt werden muss. Der derzeitige Papst hat bisher lediglich zur Schuld einzelner Priester und Bischöfe Stellung genommen. Zu den Vorgängen innerhalb der vatikanischen Mauern fand er kein Wort. Benedikts beharrliches Schweigen dazu macht ihn als Papst unglaubwürdig. (derStandard.at, 16.1.2012)

*Franz von Sales, Philothea, Eichstätt-Wien 1981, 25