Bild nicht mehr verfügbar.

Die Bauarbeiten im Gehirn stürzen Pubertierende in eine schwierige Phase.

Der Eintritt in die Pubertät lässt Eltern ihre Kinder nicht wiedererkennen. Übel gelaunt, streitlustig, risikofreudig und provokant bringen die Halbwüchsigen ihre Umgebung über Jahre hinweg zum Verzweifeln. Schuld sind die Hormone und das Gehirn, die nicht nur auf den Körper, sondern auch auf die Psyche radikalen Einfluss nehmen. Während der Organismus jedoch immer früher seine Geschlechtsreife erlangt, hat sich der Zeitpunkt der neurophysiologischen Reifung nicht wirklich verändert. Ein einseitiger Trend, der die Dauer dieser konfliktreichen Lebensphase innerhalb der letzten 180 Jahre verdreifacht hat.

Konkret ist im Jahr 1900 die erste Regelblutung bei Mädchen im Alter von rund 14 Jahren eingetreten. Heute darf das weibliche Geschlecht im Schnitt schon mit 10,6 Jahren mit der Menarche rechnen. Auch bei Buben hat sich der Beginn der Pubertät nach vorne verschoben, allerdings sind sie nach wie vor um ein Jahr später als die Mädchen dran.

Es existiert die umstrittene Theorie, dass diese Verschiebung mit der Ernährung zu tun hat. In verschiedenen Studien kommen Wissenschaftler zu dem Schluss, dass das zunehmende Übergewicht für das frühzeitige Einsetzen der Pubertät mitverantwortlich ist. Sobald der Organismus angeblich über einen bestimmten Fettanteil verfügt, erhält er das Signal, Sexualhormone auszuschütten. Dass sich mit dem Dickerwerden der Kinder der Trend des frühen Pubertätseintritts fortsetzt, ist laut Klaus Kapelari, Kinderarzt und Endokrinologe an der Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde der Medizinischen Universität in Innsbruck, jedoch nicht zu befürchten: "Seit einigen Jahren ist der Zeitpunkt des Pubertätseintritts relativ konstant."

Pickel und Haare sprießen

Wann auch immer es so weit ist, die Hypophyse leistet Vorarbeit für sämtliche körperlichen Veränderungen, indem sie das luteinisierende beziehungsweise follikelstimulierende Hormon auszuschütten beginnt. Unter dem Einfluss dieser beiden Botenstoffe werden in den Keimdrüsen fortan die Sexualhormone Östrogen und Testosteron produziert. Nase, Finger und Zehen beginnen nun zu wachsen, auf der Haut sprießen plötzlich Pickel und im axillären und genitalen Bereich  Haare. Innerhalb eines Jahres lassen Wachstums- und Sexualhormone Buben bis zu circa elf Zentimeter und Mädchen bis zu neun Zentimeter nach oben schießen.

Die körperlichen Veränderungen sind unübersehbar, mit der endgültigen Erlangung der sexuellen Reife ist es aber wie erwähnt nicht getan. Im Gehirn eines Pubertierenden herrscht auch dann noch ein heilloses Durcheinander. Eine Langzeitbaustelle, in der gewaltige Umstrukturierungen stattfinden, neue Verschaltungen gebildet werden, ungenützte Nervenbahnen plötzlich genützt werden.

Chaos der Gefühle

"Mit der Veränderung der kognitiven Leistungsfähigkeit kommt es zu einem Chaos der Gefühle", fasst Max Friedrich, Neuropsychiater und Leiter der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Wien, die Auswirkungen der neurophysiologischen Entwicklung auf die Psyche des Jugendlichen zusammen und bezieht hier intellektuelle, emotionale und soziale Veränderungen stets in seine Betrachtungen mit ein. Die Bauarbeiten im Gehirn lassen den Pubertierenden intellektuell in eine philosophische Krise stürzen, drängen ihn emotional in die Sturm-und-Drang-Zeit, während im sozialen Bereich nun die Konfliktphase angesagt ist.

Letzteres ist auch für die Umwelt anstrengend, macht aber Sinn. "Gäbe es ein optimales Elternhaus, in dem Eltern und Kinder in totaler Harmonie leben, dann würde die Menschheit aussterben, denn dann gäbe es keinen Grund mehr, es je zu verlassen", konstatiert Friedrich.

Gleichaltrige übernehmen die Erziehung

Wie die kleinkindliche Trotzphase ist auch das Erwachsenwerden ein ganz natürlicher Prozess, den jeder Mensch im Laufe seines Lebens durchmacht und der dennoch viele Eltern an den Rand der Verzweiflung treibt. "Offensichtlich verdrängen wir unsere Pubertät, sobald wir den Schritt zum Erwachsensein geschafft haben", erklärt sich Friedrich das plötzliche Unverständnis vieler Eltern für den eigenen Nachwuchs. Im Umgang mit seinen eigenen vier pubertierenden Kindern hat auch ihm sein psychiatrisches Wissen wenig geholfen.

Die Erziehung eines Pubertierenden ist praktisch immer eine Herausforderung - laut Friedrich heute mehr denn je. Autoritärer oder antiautoritärer, demokratischer und liberaler Stil haben sich nicht bewährt. Im Moment wird die Erziehung über weite Strecken von Gleichaltrigen übernommen. Der chronische Zeitmangel vieler Eltern, Patchworkfamilien und Alleinerzieherhaushalte haben unter anderem dazu geführt, dass Richtlinien nunmehr nicht mehr vom Elternhaus, sondern von sogenannten "peer groups" vorgegeben werden.

Vulnerable Phase mit Folgen

Geblieben ist in jedem Fall die Sorge vieler Eltern um ihre halbwüchsigen Kinder - nicht ganz unbegründet, denn Hormone und Hirnreifung bringen auch eine Anfälligkeit für diverse Erkrankungen mit sich. So manifestieren sich in dieser Entwicklungsphase unter anderem häufig Epilepsien, Diabetes und rheumatische Erkrankungen. "Bei einem achtjährigen Mädchen mit vorzeitiger Pubertätsentwicklung konnten wir nur durch medikamentöses Bremsen der Pubertät die unbeherrschbare Häufung von Anfällen im Rahmen ihrer schweren Epilepsie in den Griff bekommen", erzählt Kapelari von einem Fall aus der Praxis. Dauerlösung ist das Hinauszögern der Pubertät natürlich keine.

Max Friedrich sieht sich in dieser vulnerablen Phase vordergründig mit Essstörungen, Suchterkrankungen und der Entwicklung jugendlicher Psychosen konfrontiert. Oft ist die Sorge der Eltern um die "Spinnereien" der eigenen Kinder aber auch unbegründet und Teil einer ganz normalen Entwicklung.

Biologisches Alter zählt

Schwierig kann die Lage auch im Vorfeld sein, wenn der Teenager ein Spätzünder ist. Definitionsgemäß ist von einer konstitutionellen Enwicklungsverzögerung die Rede, wenn ein Bub bis zum 15. Lebensjahr und ein Mädchen bis zum 14. Lebensjahr noch nicht mit der Geschlechtsentwicklung begonnen hat. "Wichtiger als das tatsächliche Alter ist das biologische Alter, das sich mit Hilfe eines Handröntgens bestimmen lässt", erklärt der Kapelari. Zeige sich beispielsweise ein zwölfjähriges Knochenalter, dann sei die Tatsache, dass ein 15-jähriger Jugendlicher noch nicht in die Pubertät eingetreten ist, meist vollkommen normal. Therapiert wird erst, wenn feststeht, dass ein Jugendlicher nicht von alleine in die Pubertät kommen wird, sondern eventuell eine hormonelle Störung dahintersteckt. Mit einer Hormontherapie wird der Hypophyse dann auf die Sprünge geholfen.

Besonders anhängliches Verhalten in der Präpubertät beobachtet Kapelari bei den Spätblühern, die aus Gründen der Ausgrenzung in der eigenen Altersgruppe Liebe und Anerkennung wieder im heimatlichen Hafen suchen. Friedrich spricht hier von einer ödipalen Phase, die bei Spätpubertierenden häufig wiederbelebt wird. Die Ablösung, insbesondere von der Mutter, bringt anschließend erst die Pubertät mit sich. "Je emotionaler und intellektueller Eltern sind, desto höher sind ihre Chancen, im Dialog mit dem pubertierenden Kind zu bleiben. Letztlich bleibt Erziehung aber immer ein Probehandeln. Ausprobieren und Fehlermachen sind von beiden Seiten erlaubt", ergänzt Friedrich. (Regina Philipp, derStandard.at, 12.3.2012)