Schreiben über Ali: Philipp Reemtsma.

Noel Tovia Matoff

Standard: Wann erwachte Ihr Interesse an Muhammad Ali?

Reemtsma: Das war zu der Zeit, als er sich um den Kampf gegen Sonny Liston bewarb, Anfang 1964, und er in der deutschen Presse in die Schlagzeilen geriet als jemand, der sich nicht so benimmt, wie man das von Boxern, zumal von schwarzen Boxern, gewohnt war. Was im amerikanischen "loudmouth" heißt, prägte hier als Großmaul die Schlagzeilen. Da gab es auch entsprechende Fotos von ihm, mit weit geöffnetem Mund. Das stieß damals auf allgemeine Ablehnung und hat mich als Elfjährigen irgendwie interessiert.

Standard: Wurden Sie, wie viele andere Jugendliche auch, nachts geweckt, um Muhammad Alis Kämpfe zu sehen?

Reemtsma: Der Liston-Kampf wurde noch nicht übertragen, das kam erst viel später. Und da wurde ich dann auch nicht nachts geweckt, weil das sonst niemanden interessierte. Da weckte ich mich selber.

Standard: Wie entwickelte sich die Faszination des Elfjährigen?

Reemtsma: Ich habe vor kurzem einen alten Zeitungsausschnitt gefunden. Die Wetten vor dem Liston-Kampf standen 3:8 gegen, damals noch, Cassius Clay. Und dann kam eben die große Überraschung, dass er nicht nur gewann, sondern sehr überzeugend gewann. Und all das, was die Kämpfe auch später immer wieder begleitet hat, die Frage, ob da jemand die Fäden gezogen hat, ob es Absprachen gab. So beginnt die Geschichte. Dann hat mich dieser Boxer eigentlich kontinuierlich interessiert. Später nochmals besonders, als ihm der Titel aus politischen Gründen entzogen wurde und als er sein Comeback gab. Dann habe ich eigentlich jeden Kampf möglichst live verfolgt.

Standard: War das Boxen für Sie auch primär von Interesse?

Reemtsma: Nein, überhaupt nicht.

Standard: Aber Sie mussten sich zu einem Fachmann entwickeln, um Ihr Buch zu schreiben. Wie haben Sie das angestellt?

Reemtsma: Ich bin so weit Fachmann, als ich es zu sein scheine. Ich hatte einfach Lust, dieses Buch zu schreiben. Ich hatte damals eine kleine Wohnung in London, und da gab es Videoläden, die sehr, sehr viele Sportvideos vertrieben. Die Engländer sind ja eine sportbegeisterte Nation. Es gab auch viele Videos mit Boxkämpfen von Muhammad Ali. Die habe ich mir gekauft und angesehen, auch in Zeitlupe. Da habe ich festgestellt, dass man das genauer beschreiben kann, als es die Journalisten in aller Regel tun. Die haben bestimmte Klischees im Kopf, nach denen sie das abhandeln.

Standard: Sie haben im letzten Kapitel Ihres Buches versucht, Muhammad Ali als einen gewissen Typ Mensch zu beschreiben ...

Reemtsma: Ich wollte diesen bestimmten Menschen beschreiben und habe mir überlegt, ob man das in irgendeiner Weise zu einem Gedankenspiel machen kann. Interessant könnte daran sein, dass die gegenwärtige Gesellschaft ganz andere Flexibilitätsanforderungen an Menschen stellt, ihnen oft sehr schnelle Rollenwechsel aufnötigt. Später habe ich ein Buch des amerikanischen Psychiaters und Psychoanalytikers Robert Lifton gelesen. Der hat sich einen Namen gemacht, indem er darüber geschrieben hat, was der Einsatz der Atombombe für Amerika bedeutete. Er hat auch über KZ-Ärzte geschrieben, gehört also zu einem ganz anderen Bereich. Das Buch, das ich meine, trägt den Titel The Protean Self: Human Resilience in an Age of Fragmentation. Proteus ist in der antiken Mythologie derjenige, der sich in jede Gestalt verwandeln kann. Es interessierte mich, dass gerade Lifton schrieb, dass die Gesellschaft auf solche Typen in Zukunft immer mehr setzen wird. Und diese Typen entstehen auch.

Standard: War Muhammad Ali gewissermaßen ein Vorreiter dieser Entwicklung, ein Proteus?

Reemtsma: Das sehe ich ein bisschen so. Ich wollte ja nicht so sehr über einen Menschen psychologisieren. Was weiß ich denn schon über ihn? Ich weiß, was in der Presse gestanden hat, und ich weiß, wie er boxt. Und da ist das Interessante, dass er eben nicht einen bestimmten Stil hatte, den er durchsetzte. Die Reporter haben ihn auch noch als den leichtfüßigen Muhammad Ali mit seinem Tänzeln beschrieben, als er das längst nicht mehr war. Wenn er dann nur ein paar Shufflebewegungen gemacht hat, hieß es gleich, der alte Muhammad Ali ist wieder da. Unsinn! Das hat er oft auch sehr bewusst eingesetzt, um Ringrichter, Punkterichter und Journalisten zu täuschen. Das war gar nicht wichtig für den Kampf, sondern das war Show.

Standard: Was war wichtig für seine Art zu boxen?

Reemtsma: Er war nicht jemand, der einen Stil durchsetzte. Er war niemals so einseitig, wie er vom Kampf gegen Liston an oft beschrieben wurde. Muhammad Ali hat später seinen Kampfstil sehr genau auf seine Gegner eingestellt, gerade in den großen Kämpfen gegen George Foreman und Joe Frazier, in denen er zum Erstaunen seiner Gegner im Grunde machte, was die selber machten. Sie stießen also in bestimmten Phasen dieser Kämpfe auf ein Spiegelbild ihrer selbst. Das hat sie natürlich vor eine große Herausforderung gestellt, weil ja Boxkämpfe zur Hälfte psychologisch sind wie Schachkämpfe auch. Sie haben immer etwas anderes erwartet als das, was ihnen dann entgegentrat.

Standard: Gab es dennoch eine Konstante, also ein Stilmerkmal?

Reemtsma: Durchgängig war die ungeheure Fähigkeit Muhammad Alis, bis zum Ende Kombinationen zu schlagen, also nicht eine bestimmte, eingespielte Sequenz von Schlägen, die den Gegner abtasten und das Warten auf den Lucky Punch, sondern Kombinationen von Schlägen, von denen dann einer derjenige ist, den der andere nicht kommen sieht. Das vor allem früher mit dem zusätzlichen Gag, dass er die Hände hängen ließ, was man immer als Arroganz und Leichtfertigkeit interpretierte, was es natürlich auch war, es hatte aber auch den ungeheuren Vorteil, dass der Gegner die Schläge nicht kommen sah. Andere Boxer hätten sich das nicht leisten können, das ist ja eine gefährliche Taktik. Er konnte sich das deshalb leisten, weil er wahnsinnig schnell war, nämlich nicht in erster Linie auf den Beinen, sondern im Kopf. Das sind Dinge, die man sehr gut in der Zeitlupe sieht. Da muss man sich morgens um neun hinsetzen, gucken, zurückspulen, nochmals gucken. Das ist dann Arbeit, wie ich sie sonst als Philologe bei einem Text tue.

Standard: Haben Sie nach Muhammad Alis Rücktritt nach einem Boxer gesucht, der ihm ähnlich sein könnte? Hat Sie das Thema weiter interessiert?

Reemtsma: Es hat mich nicht mehr interessiert. Es kann einmal vorkommen, dass ich einen Boxkampf mit Klitschko sehe.

Standard: Sie philosophieren also auch nicht über die Entwicklung des Sports?

Reemtsma: Nein, nein. Jeder, der Kämpfe von Muhammad Ali kennt, nickt nur müde mit dem Kopf, wenn ich sage, dass es das nicht mehr ist, was uns damals dahin gebracht hat fernzusehen. Ich würde nie wieder wegen eines Boxers morgens aufstehen. Den gab es nur einmal. Die einzige Ausnahme war vielleicht Sugar Ray Leonhard.

Standard: ... ein begnadeter Welter- und Mittelgewichtler ...

Reemtsma: Ja, ich habe durch Zufall diesen "No mas, No mas"-Kampf in einem Hotel in Neuseeland gesehen, als Roberto Duran gegen Leonhard aufgab, weil er keine Lust mehr hatte, als Leonhard das nicht begriffen hat und Duran 'No mas, no mas' rief. Die Kämpfe von Leonhard habe ich mir auf Video besorgt. Und Punkt.

Standard: Wird Muhammad Alis Bedeutung über das Boxerische hinaus heute verklärt, überschätzt?

Reemtsma: Das glaube ich nicht, zumal man das schwer auseinanderhalten kann. Ich glaube doch, dass es kein Zufall war, dass bei den großen Kämpfen auch so viel politische Prominenz der schwarzen Bewegung am Ring gesessen hat. Martin Luther King hat da gesessen. Das war von großer Bedeutung. Als Student in London war ich einmal in einer kleinen Kaschemme mit sehr interessantem, zu scharfem indischem Essen, und da hing ein Zeitungsfoto von Muhammad Ali. Er war also nicht nur für die Schwarzen in den USA, sondern für alle Farbigen rund um die Welt eine Ikone. Irgendwie hatten sie das Gefühl: "Der macht unsere Sache". Das darf man nicht unterschätzen.

Standard: Wirkt das, zum Beispiel in "Yes we can", gesellschaftspolitisch bis heute fort?

Reemtsma: Das gäbe es so nicht, auch wenn man nicht monokausal sagen kann, dass die USA wegen Muhammad Ali heute einen schwarzen Präsidenten haben. Aber er gehört ganz entscheidend in eine Bewegung, die auch zu "Yes we can" geführt hat und übrigens auch zu der dann folgenden Enttäuschung. Wenn man schon so von der Euphorie mitgerissen wird, dann muss es doch auch etwas werden. Muhammad Alis Kämpfe sind etwas geworden.

Standard: Wie augenfällig ist diese Veränderung tatsächlich?

Reemtsma: Da erzähle ich Ihnen eine Geschichte: Vor vielen Jahren habe ich mit meinem Sohn Urlaub auf Hawaii gemacht. Die Gäste im Hotel waren nur Weiße und Japaner. Das Personal war schwarz oder hawaiianischen Ursprungs. Da gab es eine ganz klare, soziale Rassentrennung. Ich fragte mich für meinen zehnjährigen Sohn, wie es aussähe, wenn man einmal ein Jahr auf Hawaii lebte, wenn man hineinwächst in so eine Gesellschaft, wenn das nun selbstverständlich wäre. Als wir zurückflogen, waren wir in Los Angeles oder San Francisco auf dem Flughafen, und das war schlagartig ein anderes Bild. Schwarze und Weiße in jeder Lounge gemischt, es gab Schwarze und Weiße, die den Müll wegmachten, es gab Businessmen mit ihren Aktenkoffern - schwarz, weiß, japanisch, es war alles gemischt auf diesem Flughafen. Was für ein verändertes Bild gegenüber dem Bild auf Hawaii! Und zur Veränderung dieses Bildes gehört jemand wie Muhammad Ali, gehört nicht zuletzt, dass er sich hingestellt und gesagt hat: "Ich bin der Schönste".

Standard: War das nicht nur Ausdruck seines Selbstbewusstseins?

Reemtsma: Das war zu einer Zeit, als es viele Schwarze gab, die ihr krauses Haar nicht ertrugen und es glattkämmten. Denken Sie an die Verfilmung des Lebens von Malcolm X. Die fängt damit an, dass er sich als kleiner Ganove Schmiere auf den Kopf tut. Und erst im Gefängnis trifft er dann jemanden, der ihn fragt, warum er sich das antut, warum er sich die Haare glattmacht, wo er doch ein Schwarzer ist. Es ist der erste Schritt zu Malcolm X, dass er sich zu seinem Haar bekennt. Dann erst übernimmt er das andere. Und da spielt es keine Rolle, ob man das mit den Black Muslims nun schätzt oder nicht. Die Wahrnehmung hat sich geändert. Und zu dieser Wahrnehmungsänderung hat Muhammad Ali ungeheuer viel beigetragen.

Standard: Vor allem, weil er eine bekannte Persönlichkeit war?

Reemtsma: Stellen Sie sich vor, dieser Mann mit seinen Fähigkeiten wäre ein Boxer gewesen, der sich mit der Hierarchie der Rassen einverstanden erklärt und das Bild von jemandem abgegeben hätte, der sich die Haare zurückkämmt, der nicht gesagt hätte: "Ich bin der Beste, ich bin der Schönste". Und schließlich gab es ja auch seine Kriegsdienstverweigerung. Er hat gesagt, dass er nicht nur deshalb nicht in den Krieg zieht, weil ihm die Religion das verbiete. Nein, er sagte: "I ain't got no quarrel with them Viet Cong." Die, die Bomben auf Vietnam abwerfen, sind die, die uns hier aus den Kneipen hinauswerfen, nur weil wir Schwarze sind. Die Verbindung herzustellen, dass dieser Krieg nicht nur politisch und militärisch äußerst furchtbar war, sondern auch rassistische Implikationen hatte, geht auf ihn zurück. Das hat er populär gemacht. Es gab viele Intellektuelle, die das auch so gesehen haben, aber wer kannte die schon?

Standard: Hat das Engagement bei den Black Muslims dem Ansehen Muhammad Alis, dem Ansehen seiner Mission geschadet?

Reemtsma: Ein bisschen schon. Ja und nein. Diese Black Muslims sind ein ziemlich verrückter Verein. Vieles über sie habe ich erst erfahren, als ich mein Buch schon geschrieben hatte. Die Sache mit den fliegenden Untertassen etwa, die die Gläubigen holen würden. Da hatte es Züge von Scientology. Von den antisemitischen, ich will mal sagen - toi, toi, toi - Entgleisungen der Black Muslims, habe ich auch erst viel später erfahren, sonst hätte ich sie erwähnt. Es ist ja auch unklar, wer Malcolm X ermordet hat. Er wollte sich offensichtlich von den Black Muslims trennen. Das war genau in der Zeit, als er im Trainingscamp von Muhammad Ali war. Ein paar Wochen später war Malcolm X tot. Und man weiß auch nicht, welche Angst Muhammad Ali später vor den Black Muslims hatte. Man hat das aus Respekt vor ihm nicht so hochgehängt.

Standard: Welche Rolle spielte sein Bekenntnis zum Islam?

Reemtsma: Zweifellos war das damals eine noch größere Provokation, dass er nicht nur auf seine schwarze, sondern auch auf seine muslimische, also nichtchristliche Identität pochte. Das auch gegenüber anderen Boxern, die - jedenfalls später - als Laienprediger und so weiter auftraten. Das bewusst unamerikanische Auftreten hat ihm noch einen zusätzlichen Drive gegeben.

Standard: War der Glaube für Muhammad Ali also nur ein Vehikel?

Reemtsma: Ich kann das nicht beurteilen. Er präsentiert sich als gläubiger Moslem. Und so etwas glaube ich. Welchen Grund hätte ich, das nicht zu tun?

Standard: Muhammad Ali hat viele Gegner verhöhnt, Frazier etwa als "Onkel Tom", als guten Schwarzen für die weiße Öffentlichkeit.

Reemtsma: Ich habe eine Reihe von Rückblicken auf Kämpfe samt Interviews seiner Gegner gese-hen. Die meisten meinten nur: "Schwamm drüber". Bei Frazier war das anders. Da war schon zu spüren, dass er der Meinung war, hier habe Muhammad Ali ihm unrecht getan und hätte so eine PR-Strategie nicht fahren dürfen.

Standard: Ist das ein Makel der Karriere von Muhammad Ali?

Reemtsma: Mit Sicherheit hat er da eine Karikatur entworfen, wie er das häufig hat von seinen Gegnern. Viel von dem, was er denen nachgesagt hat, hätte nicht sein müssen, manche haben ihn vorher angegriffen, und er hat das dann zurückgegeben. Das war dann die Polemik, die ihren Platz hatte. Aber wenn einer es nicht verdient hat, dann hat er es nicht verdient. Wir alle haben das auch mitgenossen und sind auch ein bisschen eingestiegen auf diese Geschichten. Muhammad Ali hat immer versucht, seine Kämpfe mitzudrehen, als Kampf Gut gegen Böse. Und manchmal haben es ihm seine Gegner furchtbar leicht gemacht. Da wäre diese Schäferhundgeschichte, als Foreman vor dem Rumble in the Jungle in Kinshasa eingetroffen ist und einen belgischen Schäferhund dabeihatte. Herrgott noch mal, so ignorant muss man erst einmal sein, in den ehemaligen belgischen Kongo mit einem belgischen Schäferhund zu kommen. Das hat dann mit dazu geführt, dass die Leute "Ali! Bumaye!", "Ali, schlag ihn tot!" geschrien haben.

Standard: Sie fanden in Ihrem Buch faszinierende Parallelen zwischen Muhammad Alis Geschichte und den "Rocky"-Filmen Sylvester Stallones. Ist es für Sie eine schöne Pointe, dass Stallone im Vorjahr in die Hall of Fame des Boxsports aufgenommen wurde, quasi an die Seite von Muhammad Ali?

Reemtsma: Ach, das finde ich nett. Das wusste ich gar nicht. Ich stehe zu meiner Interpretation. Ich glaube, die war gut und vollkommen richtig. Und wenn Stallone hier säße, würde ich sagen: "Geben Sie es zu, so war es gedacht, oder zumindest Ihre Regisseure haben es so gedacht."

Standard: Was genau gedacht?

Reemtsma: Ausgangspunkt der Rocky-Saga ist eine Episode aus der Zeit, als Muhammad Ali, einfach um Schlagzeilen zu machen, gegen einen weißen Underdog antrat. Und dieser Underdog hat Muhammad Ali niedergeschlagen. Er war ihm auf den Fuß getreten, das war eine Panne, aber trotzdem eine Sensation. Das war, so sagt Stallone selber, der Ausgangspunkt: Der weiße Underdog, der gegen einen Glamour-Schwarzen boxt, der in seinem Film zu einer Karikatur wird. Und nun wird im Laufe dieser Geschichte diese Muhammad-Ali-Karikatur immer mehr zu einer Identifikationsfigur nicht nur für Rocky, sondern auch für das Publikum. Sie werden sich immer ähnlicher, bis Rocky Balboa in den Filmen lernt, wie sein schwarzer ehemaliger Gegner, sprich wie Muhammad Ali zu boxen. Der Schwarze stirbt, Rocky ist die Wiedergeburt. Wie es dann sein muss, erleidet er sogar als Folge der Kämpfe dieselben Verletzungen wie Muhammad Ali. Das wird so genau wie in den Ali-Biografien und den Diagnosen bis hin zu fingierten MRT-Untersuchungen des Schädels dargestellt. Das sind keine Zufälle. Das ist, was Hans Blumenberg "Arbeit am Mythos" genannt hat. Die großen Mythen werden immer noch einmal neu erzählt. Und wir haben einen Mythos live erlebt, das war Muhammad Ali. Und wir haben die erste Bearbeitung dieses Mythos erlebt, das waren die Rocky-Filme.

Standard: Sind sie eine gewisse Art der Versöhnung zwischen Muhammad Ali und der US-Öffentlichkeit?

Reemtsma: Ja, auch ein bisschen des weißen und schwarzen Amerikas über die Figur Muhammad Ali selbst und über deren mythische Repräsentanz in Rocky.

Standard: Wann haben Sie Muhammad Ali kennengelernt?

Reemtsma: Ich wurde zu einer Veranstaltung am Vorabend seines 59. Geburtstags eingeladen. Mich hat da ein österreichischer Skispringer angesprochen.

Standard: Etwa Hubert Neuper, der damals Veranstalter des World Sports Award in London war?

Reemtsma: Ich glaube ja. Der fragte mich, ob ich da auftreten wolle, um eine Grußadresse zu Muhammad Alis Geburtstag zu sprechen. Ich fragte, was ich da unter all den Sportlern zu suchen hätte. Er meinte, dass er mein Buch gelesen habe und es das beste sei, das es über Muhammad Ali gebe. Es war mir eine Ehre zu kommen. Ich habe die Grußadresse gesprochen und wurde dann an Muhammad Alis Tisch geführt. Er hat mich begrüßt. Es ist natürlich bedrückend, wenn man jemanden, den man als fitten, jugendlichen Menschen kannte, schwer gezeichnet von Parkinson oder was weiß ich sieht. Das sind mit Sicherheit auch die Spuren seiner Kämpfe, das kann nicht anders sein. Ich habe mich einmal mit einem Neurologen darüber unterhalten, was da passiert mit einem Gehirn. Da gehen viele Dinge nachhaltig kaputt. Das hat Auswirkungen, die wie Parkinson aussehen können. Ob er diese Krankheit noch zusätzlich hat, weiß man ja nicht.

Standard: Inwieweit ist Muhammad Ali noch Herr seiner Sinne?

Reemtsma: In London fragte er mich, woher ich käme. Das war schwer zu verstehen. Ich sagte aus Deutschland, aus Hamburg. Und er antwortete, ah Hamburg, Mildenberger. Also diesen Kampf gegen Karl Mildenberger 1966 hatte er präsent, obwohl der in Frankfurt stattfand. Zum zweiten Mal bin ich ihm 2005 begegnet, als er in Berlin die Otto-Hahn-Friedensmedaille erhielt. Ich habe die Laudatio gehalten. Da hat er, als ich seine wichtigsten Kämpfe erwähnte, hochgesehen. Auch da war er also präsent. Und bei Fraziers Beerdigung, als der Pastor sagte, dass sich Frazier, anders als das Muhammad Ali in seiner Vorkampfpolemik dargestellt hat, sehr wohl für die Schwarzenbewegung eingesetzt habe, ist Muhammad Ali aufgestanden und hat sich vor dem Sarg verneigt. Das heißt, dass er genau das gehört haben muss. Das war spontan, das war nicht vorbereitet. Er hat übrigens eine ganz klare Handschrift, ich habe mir ein Buch von ihm signieren lassen.

Standard: Empfinden Sie Mitleid mit Muhammad Ali?

Reemtsma: Wenn es einem Menschen schlecht geht, wird man immer Bedauern empfinden. Was wäre auf der anderen Seite gewesen, wenn er nicht diesen Weg eingeschlagen hätte? Dann wäre er bloß der Sohn eines Schildermalers aus Louisville, Kentucky, geblieben. Viel mehr wäre er wohl auch selbst nicht geworden.

Standard: Sie haben geschrieben, dass jeder seinen Preis bezahlen muss.

Reemtsma: So sehe ich das auch. Der Preis ist hoch, aber er hat auch ungeheuer viel bekommen vom Schicksal. Und das bis jetzt. Er weiß, wer er ist. Das ist ihm anzumerken. Er ist kein tumber Mensch, zurzeit jedenfalls nicht, der nicht weiß, was um ihn herum vor sich geht. Er weiß, er ist Muhammad Ali, und die Leute sind da, um ihn zu sehen.

Standard: Wünschen Sie ihm etwas zum Geburtstag?

Reemtsma: Alles Gute, von Herzen.(lü,DER STANDARD Printausgabe, 14./15. Jänner 2012)