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Wo geht's hier ins menschen-möglich Freie? Vier Anselm-Glück-Figuren sitzen fest im "Wirts-körper" einer zu Tode regulierten Alltagswelt.

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Mit der Uraufführung des Anselm-Glück-Textes "innerhalb des gefrierpunktes" gelang Regisseur Philip Tiedemann und fünf prächtigen Schauspielern ein kleines Grazer Wunder: ein komischer Abend aus nichts als Sprache.


Graz - "manchmal/ schien ich/ zum greifen nahe/ doch kurz darauf entschwand ich wieder": Die fünf Menschenkinder, die im Grazer Schauspiel das Privileg genießen, diese Anselm-Glück-Sätze zu sprechen, die aus einem Dunkel der Einbildungskraft heraufsteigen, um sofort zu verglühen, sind Zeugen unseres mikrobiologischen Vorlebens. Sie heißen "m1", "m2" oder "f2", und ihre glatten Haarschöpfe glänzen wie oxydgebleicht.

Sie sind gedunsen und feist wie die Mehlwürmer, ihre Augen starren wie die von Marilyn Manson, und sie sitzen in einem der atemberaubendsten Bühnenbilder der letzten Theatersaisonen fest (von Franz Lehr): in einem Labyrinth aus Organen und Membranen, in einer geschlossenen Gartenanstalt Eden, in deren Nischen Kunstpelzflecken kleben, die an Schleimhäute denken lassen.

Zugleich ist alles so schön rund hier, so oberflächenglatt und benutzerfreundlich - wie es sich ein Parasit von seinem Wirtskörper nur erträumen mag. Ein arkadisches Literaturbiotop. Der Glück-Text innerhalb des gefrierpunktes, den der Wortmusikdirigent Philip Tiedemann in Koproduktion mit dem Düsseldorfer Schauspiel für Graz 2003 wunderbar leichthändig uraufgeführt hat, leistet sich den Spaß, gegen das herkömmliche Theater in der beredtesten Weise zu opponieren.

Er enthält der Bühne strikte vor, womit diese sich am geläufigsten herumschlägt - mit biografisch vorgefertigten Figuren, die man in die Säurebäder der Regiefabriken hineintaucht, um sie auf Herz und Nieren zu prüfen.
Auf der Spielfläche des Grazer Schauspiels hängt die Niere nun bereits vom Plafond des Bühnenkastens herunter. Krümmt sich ein Fuß beim Auftreten zehenlang, gähnt aber auch ein (unsichtbares) Wasserloch, von dem unsere Satzmacher und Sprachblutkörperchen trinkend - und leider auch hineinurinierend - wie selbstverständlich Gebrauch machen.

Ihr Grundwortschatz besteht aus dem einleuchtenden Pronomen "ich", und allmählich entsteht aus dem Wechsel der unfassbaren, unantastbaren Glück-Sätze so etwas wie ein hochmusikalisches Urtheater der Leider-noch-nicht-Menschen. Oder Leider-schon-nicht-mehr - wer weiß?
Alles dreht sich, alles webt Wörter um die Orientierung in einem Lebenszusammenhang, der anonym ist wie unsere Urhorde - selbst wenn sie sonnenklare Sätze sagt: "wir besetzen paradiese/ und wenn wir sie gründlich verwüstet haben/ ziehen wir weiter/ um uns anderswo/ in fernen planetensystemen/ frisch wieder an den busen einer natur zu hauen".
Das lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig und stammt nicht von schlechten Eltern, insofern eine solche Sentenz auch aus der apokalyptischen Feder von Günter Anders stammen könnte. Ist aber echter Glück. Und so könnte man es Regisseur Tiedemann höchstens zum Vorwurf machen, das seine Vorspiegelung berückender Schauwerte sich fast schon zu lieblich heranschmeichelt.

Dass er sich begierig auf alle die Partikel stürzt, die so etwas wie Handlung verbürgen - darunter eine hochkomische Beziehungsauseinandersetzung im Sonnenstudio oder ein hocherregtes Streitgespräch, geführt mit nichts als Vokalen (Steffi Krautz). Ein Höhlengleichnis, das auch von der Hölle erzählt. Die die Menschen einander bereiten. Prächtiger Abend. (DER STANDARD, Printausgabe, 10.6.2003)