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In der Türkei wird gegen den Chef der größten Oppositionspartei ermittelt.

Foto: AP/Stavrakis

So, jetzt gibt es kein Halten und kein Zögern mehr, es wird geklagt, was das Zeug hält: Montagnachmittag hat es auch Kemal Kilicdaroglu erwischt, den Chef der größten Oppositionspartei, und gleich danach Selahattin Demirtas, den Vorsitzenden der Kurdenpartei BDP. Die Türkei ist eine Republik der Staatsanwälte geworden, was allerdings nicht automatisch auch Rechtsstaat bedeutet: Ein Parameter zum Beispiel, der nach dem Eindruck türkischer Beobachter wie auch der EU-Kommission regelmäßig zu kurz kommt, ist das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Klagen, Einsperren und dann schauen wir einmal weiter, ist ein Verfahren, das jetzt an seine Grenzen stößt.

Gegen Kilicdaroglu ermittelt nun die Staatsanwaltschaft in Silivri, dem Ort des derzeit "berühmtesten" Gefängnisses des Landes, wo Generäle, Anwälte, Journalisten und andere Putschisten auf ihren Prozess wegen versuchten Staatsumsturzes warten. Kilicdaroglu hat Silivri ein "Konzentrationslager" genannt, was anderswo als geschmacklose Entgleisung eines Politikers durchginge, in der Türkei aber eine strafrechtliche Antwort zur Folge hat. Politiker können hierzulande zwar allerlei haarsträubenden Unsinn äußern, nicht aber über die "Säulen" des Staates wie die Justiz. Der Kurdenpolitiker Demirtas entschied sich wiederum für eine Beleidigung von Armeechef Necdet Özel, also den Inhaber eines etwas fragil gewordenen Amtes (Vorgänger Isik Kosaner trat im Sommer 2011 aus Protest zurück, Vorvorgänger Ilker Basbug sitzt seit Freitag ein). Er halte Özel nicht einmal für einen "onbaşī", einen Korporal, sagte Demirtas vor kurdischem Publikum. Özel hatte sich vor ein paar Tagen gegen einen Unterricht in Kurdisch ausgesprochen. Im Fall beider Parteivorsitzender müsste das Parlament nun für die Aufhebnung der Immunität stimmen...

Im Italien und Frankreich der 1990er-Jahre war die Welle von strafrechtlichen Ermittlungen gegen Politiker Ausdruck einer institutionellen Krise. Man glaubte Parteien und Politikern nicht mehr, es gab auch ausreichend Anlass dafür: schwarze Parteienfinanzierung, Bereicherung, Bestechung, Vorteilsnahme bei öffentlichen Ausschreibungen, "kick-backs" bei Rüstungsexporten, Inanspruchnahme von subventionierten Mietwohnungen trotz Ministersalär oder von städtischen Gartenarbeitern für die eigene Villa, und dann war irgendwann wieder Schluss, und die Politik hat sich einen Großteil ihres Terrains von den Staatsanwälten zurückerorbert. Die jetzige Klage- und Einsperrwelle in der Türkei sieht nicht eben wie die Folge einer politischen Glaubwürdigkeitskrise aus; die Regierung sitzt fest im Sattel, hat drei Parlamentswahlen in Folge gewonnen, steuert in den Augen der Öffentlichkeit das Land geschickt mit immer noch eindrucksvollem Wirtschaftswachstum an der Krise in der EU vorbei.

Die türkische Justizierwut lässt sich vielleicht besser in zweifacher Hinsicht interpretieren: einmal als Ausdruck einer politischen Übergangsphase, die mit einer neuen demokratischeren Verfassung dann abgeschlossen wäre; andererseits aber auch als "roll-back" der regierenden konservativ-muslimischen AKP und ihrer Anhänger in der Staatsbürokratie, die zeigen wollen, dass sie nun die Macht einnehmen, die ihnen Militär und Kemalisten jahrzehntelang verwehrt hatten.

Möglich, dass die Richter auch nach dem Befinden von Regierungschef Tayyip Erdogan nun über das Ziel geschossen sind. Erdogan hat heute erklärt, er hätte ein Verfahren gegen den Ex-Armeechef Basbug ohne Untersuchungshaft vorgezogen. Dann blieben allerdings noch 139 andere untergeordnete Generäle, die wegen ähnlicher Anklagen in den Zellen sitzen. Dass Angekagte sehr wohl während eines Verfahrens freikommen können, hat der Fall des türkischen "Wohltätigkeitsvereins" Deniz Feneri gezeigt. Sechs Hauptverdächtige durften vergangenen Oktober plötzlich wieder aus dem Gefängnis - in dem 40-Millionen-Euro-Skandal geht es zugegebenermaßen um mögliche Spenden an die AKP.