In den Vereinigten Staaten von Amerika gibt es den Beruf der Smiling People Greeters, kurz SPGs genannt. Deren Aufgabe besteht darin, den eingetretenen Restaurantgast mit einem Lächeln zu begrüßen. Hierzu sind eine gewisse Offenheit und ein freundliches Wesen durchaus opportun. Nach einigen Jahren der Praxis dürfen die routinierten SPGs dann auch schon Tische zuweisen oder die Gäste zwecks Wartens an die Bar bitten. Die bei uns übliche Sitte, Gäste ohne Tisch einfach wieder grußlos gehen zu lassen, wäre drüben undenkbar. Denkbar und auch umgesetzt ist in unseren Breiten jedoch eine andere Gepflogenheit. Gäste mit Tisch bekommen einen Gruß aus der Küche. Nicht ein simples "Hallo", sondern eine kleine, filigrane Leckerei, die zumeist Auge und Gaumen erfreut. Diese kulinarischen Miniaturen entwickelten sich quasi zu den Visitkarten der Köche und stellen oft den Höhepunkt eines großen Menüs dar.

Die Absicht dahinter ist klar, der Gast soll geschmacklich eingelullt und für die kommende Gerichte in seiner Beurteilung milde gestimmt werden. Soll sein. Das Ritual, dass der Gastgeber dem Gast ein Geschenk überreicht, ist alt und zeugt von Reichtum und Großzügigkeit. Es findet stets zu Beginn einer gemeinsam zu verbringenden Zeit statt. Immer? Mitnichten. Ein kleines Lokal im Herzen von Lyon leistet dieser Sitte beharrlich Widerstand und zeigt, dass es auch anders gehen kann. Ein Abendessen im kleinen Beisl Chez Paul in Lyon folgt einem speziellen Zeremoniell: Es kommen kiloweise Vorspeisen in großen Schüsseln serviert auf den Tisch.

Diverse Leguminosensalate, Rote Rüben, Kalbsfüße und Würste dienen dem Anwärmen des Magens. Der Hauptgang, à la carte, kann eine derbe Rindswange in ihrer Blutsauce sein, oder auch eine grob geschnittene Rindszunge in scharfem Curry. Die Desserts stellen Creme Caramel, Eis und Obst. Die spezielle Beislseligkeit, die Enge, der Wirbel, die Stadt - all das verlangt nach Wein, einfachem Wein in gebührlicher Menge. Die Schädel im Lokal werden röter, die Lautstärke stärker und knapp bevor sich alle Phäaken in den Armen liegen, verlangt man die Rechnung.

Die Wirtin bringt diese persönlich zum Tisch, aber nicht nur das, sondern auch einen Gruß aus der Küche. Einen Abschiedsgruß, der zwiespältig ein Leben lang in Erinnerung bleiben wird. Madame stellt ein großes Rexglas auf den Tisch, das mit einer grünen Flüssigkeit gefüllt ist, in der wiederum Würfelzucker eingelegt sind. Jeder Gast bekommt ein bis zwei Würfelzucker zwischen die Finger, auf dass er diese im Mund zerbeiße, auflöse und schlucke. Schluck! Was dann passiert, ist unpackbar. Entsetzlich scharf, unerträglich beißend und maximal alkoholisch breitet sich ein kristalliner Wahnsinn im Mund aus, lässt Oberkörper sich krümmen, Fäuste auf die Tische schlagen und Tränen aus den Augen schießen. Hechelnd-keuchend und mit Puls 170 findet man sich Minuten später wieder oberhalb der Tischplatte, bar jeder Sprache und komplett außer sich. Noch ein paar Augenblicke und es wird klar, dass dieser Abschiedsgruß durchaus seine Berechtigung hat. Komplett erfrischt, wieder durch und durch klar im Kopf und irgendwie deutlich nüchterner atmet man glücklich durch und weiß ab dann, woraus ein Jungbrunnen gebaut ist: Zwei Würfelzucker in 70prozentigen Angelikageist eingelegt - und der Abend kann von vorne beginnen. Das schaffen selbst die schärfsten SPGs nicht. (derStandard.at, Gregor Fauma/speising.net)