"Würden tatsächlich die deutschen Datenschutzgesetze durchgesetzt, würde man das Internet zu einem zentralistisch regulierten und stark zensierten Gebilde umwuchten müssen. Das ist aber kaum erstrebenswert", so Christian Heller, Vertreter der Post-Privacy-These.

Foto: Christian Heller

Haben "Datenschutz" und "Privatsphäre" ausgedient? Während die einen auf Informationssicherheit pochen, formiert sich anderswo eine Gegenentwicklung, die sagt, dass Datenschutz nicht funktioniert - zumindest nicht in seiner bestehenden Form. Christian Heller hat als einer ihrer Vertreter das erste Buch zum Thema, "Post Privacy - Prima leben ohne Privatsphäre", geschrieben. Darin erklärt er, wieso Datenschutz den gestellten Sicherheitsanspruch nicht erfüllt und wieso es sich ohne Privatsphäre besser lebt. 

"Philosophisch schwer vereinbarer Gegensatz"

Dem Datenschutz widmete Heller bereits große Aufmerksamkeit, als er in das Umfeld der Hackerszene "hineinsozialisiert" wurde. Früh wurde ihm klar, dass Datenschutz im Gegensatz zur Netzfreiheit stand. Die "Selbsterfahrungsfreiheit" verlange nach einem gewissen Maß an Datenfreigabe, während der Datenschutz diese Daten fesselt. Das war für Heller ein "philosophisch schwer vereinbarer Gegensatz", wie er im WebStandard-Gespräch erklärt. Heller beschäftigte sich mit der Kulturgeschichte der Privatsphäre, was in ihm Misstrauen weckte gegenüber der damals in der Hackerszene gerne gepflegten Formel "Privatsphäre ist sehr, sehr wichtig für unsere Freiheit".

derStandard.at: Sind Sie selbst bereit, komplett auf Ihre Privatsphäre zu verzichten?

Christian Heller: Ich stelle ja sehr viel von mir ins Internet, zum Beispiel über mein Wiki, wo ich meinen Tagesablauf veröffentliche. Ähnlich wie viele Nutzer von Facebook und Twitter, die dort ihr Leben "hineinverdaten". Es ist eher ein Experiment, und ich gehe sehr vorsichtig mit der Privatsphäre anderer um. Dritte werden von mir als "X" bezeichnet. Den Kontrollverlust möchte ich schließlich anderen nicht aufzwingen.

derStandard.at: Welche Konsequenzen haben sich aus diesem Experiment ergeben?

Heller: Außer, dass sich dadurch Scherzanrufe bei mir gehäuft haben, habe ich bisher eigentlich keine konkreten Nachteile beobachten können.

derStandard.at: Sie haben vor kurzem Ihr Buch "Post Privacy - Prima leben ohne Privatsphäre" veröffentlicht. Welche Meinung vertreten Sie darin konkret?

Heller: Informationelle Privatsphäre, also die Kontrolle darüber, was die Welt über mein Leben wissen kann, ist immer schwerer aufrechtzuerhalten. Vor allem in Anbetracht von Digitalisierung und globaler Vernetzung. Anstatt diese Entwicklungen zu bekämpfen, sollten wir schauen, wie wir damit klarkommen und das Beste daraus machen.

derStandard.at: Wieso ist das immer schwieriger?

Heller: Wir sind umgeben von einer wachsenden Menge an Aufzeichnungsmaschinen, die Informationen sammeln, miteinander verknüpfen und auswerten. Wir selbst sind es außerdem, die immer mehr Informationen in diese Maschinerie hineinstopfen - beispielsweise die 800 Millionen User bei Facebook. Auch durch andere wird immer mehr unseres Umfelds und unserer Umrisse darin abgebildet, sodass wir gar nicht aktiv daran teilhaben müssen - irgendwann haben wir wenig Möglichkeit, unsere Privatsphäre aufrechtzuerhalten.

Gleichzeitig wachsen die technologischen Möglichkeiten mit leistungsfähigeren Computern und billigeren Speichern, um aus Informationen immer mehr Wissen zu hebeln und auch mehr Informationen zu sammeln.

derStandard.at: Wir sollten also nicht versuchen uns zu wehren? Wir scheitern mit dem Versuch, unsere Privatsphäre zu wahren?

Heller: Wahrscheinlich kann man das hie und da hinauszögern, indem man sich dagegen wehrt. Letztendlich denke ich, dass unsere Kraft besser investiert ist, wenn wir mit den Bedingungen aus Offenheit und Transparenz umzugehen lernen anstelle nach Mechanismen zur Geheimhaltung zu suchen.

derStandard.at: Wo sehen Sie die größten Vorteile der Post-Privacy-These? Und gilt sie für alle gleich?

Heller: Vor allem nimmt die Kommunikation und gesamt-gesellschaftliche Transparenz zu, die Gesellschaft wird dank Post-Privacy intelligenter und solidarischer. Gemeinsame Interessen oder Unterschiede werden klarer hervorgehoben, was uns auch mehr Wissen darüber verschafft, wie wir unsere Probleme angehen können. Gleichzeitig werden Machtansammlungen durchsichtiger und damit demokratisch kontrollierbarer. Hier stellt sich die Frage, ob Post Privacy für alle gleich gilt und ob sich alle allen gegenüber gleichermaßen "nackt machen" müssen. Oder ob es Institutionen wie Geheimdienste gibt, die sich erfolgreich dagegen wehren.

derStandard.at: Wie wäre in dem Fall Ihr Lösungsansatz?

Heller: Wenn es schon einen Überwachungsapparat gibt und wenn wir unsere Privatsphäre gegenüber Körpern wie Facebook oder Geheimdiensten aufgeben müssen, muss gewährleistet sein, dass dies symmetrisch geschieht. Dann auch bitte alle Daten von allen und Bekämpfung von Informationsmonopolen, wo versucht wird, das angesammelte Wissen nur wenigen Mächtigen zur Verfügung zu stellen.

derStandard.at: Sie erwähnten vorhin eine bessere Transparenz über gemeinsame Interessen. Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Heller: Ein klassisches Beispiel sind Subkulturen, die tabuisiert sind, wie zum Beispiel sexuelle Subkulturen. Die lassen sich im Internet sehr leicht finden, da sehr viele User nicht zögern, sich mit ihrem Fetisch darzustellen. Teilweise geschieht das mit Pseudonymen, es ist also nicht die totale Post Privacy, aber man findet den Mechanismus, dass man traditionelle Tabu-Themen konkret im Internet artikuliert und als Person auch ansprechbar bleibt. Das ist meines Erachtens ein ähnlicher Effekt wie in der Homosexuellen-Bewegung, die der Gesellschaft mehr Respekt eingefordert hat und sich durch die Solidarität sehr viel stärker als Gemeinschaft fühlt.

Ein anderes Beispiel sind Menschen, die aus bestimmten sozialen Bedingungen wie Hartz IV Empfänger oder - sagen wir - Freiberufler ihre Lebensumstände im Netz dokumentieren und gemeinsame Strategien im Umgang mit Behörden oder adäquate Honorar-Verrechnungen austauschen.

derStandard.at: Wir haben also Ihrer Meinung nach Vorteile durch den zunehmend wegbröckelnden Datenschutz. Finden Sie auch, dass sich für die Gesellschaft auch Nachteile durch den Datenschutz ergeben?

Heller: Zum Teil. Erstens glaube ich auch, dass Post Privacy auch Nachteile mit sich bringt, weil dadurch Sicherheiten - auf die wir angewiesen sind - infrage gestellt werden. Datenschutz hat auf jeden Fall positive Aspekte, ist aber in der jetzigen Form meines Erachtens sehr zahnlos und machtlos. Nämlich dort, wo tatsächlich Daten geschützt werden müssen. Sprich, dort wo's weh tut, ist Datenschutz nicht das große Schutzinstrument für den Einzelnen.
Andererseits ist Datenschutz deshalb erträglich, weil er so wenig fasst. Es gibt ein erhebliches Vollzugsdefizit. Würden aber tatsächlich die deutschen Datenschutzgesetze durchgesetzt, würde man das Internet zu einem zentralistisch regulierten, stark zensierten Gebilde umwuchten müssen. Das ist aber kaum erstrebenswert.

derStandard.at: Datenschutz ist in Ihren Augen also eine Bedrohung?

Heller: Im Moment zwar noch keine reale, aber zumindest eine theoretische Gefahr, sollte er jemals dort, wo er versucht hat, das Vollzugsdefizit durch drakonischere Maßnahmen aufzuheben.

derStandard.at: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass es eine Art Selbstkontrolle ist, seine Agenden im Netz öffentlich zugänglich zu machen. Entmündigt man sich dadurch nicht auch etwas?

Heller: Das ist ein simpler Selbstdisziplinierungstrick. Wenn man ein Mensch ist, der schwer Termine einhält, hilft es, diese anderen mitzuteilen, um den sozialen Druck zu erhöhen. Letztendlich entscheide ich aber immer noch selbst und man könnte es eher ein Selbstkontrollinstrument nennen.

derStandard.at: Bekommt die These, die Sie vertreten, viel Zustimmung?

Heller: Es sind zwar nicht alle meiner Meinung, aber grundsätzlich räumen viele ein, dass es großen Diskussionsbedarf gibt. Viele stimmen zu, dass wir mit einem bestimmten Maß an Datenschutzverlust klarkommen müssen. Selten sind meine Gesprächspartner der Ansicht, dass Datenschutz, wie er jetzt - zumindest in Deutschland - ins Gesetz gegossen ist, gut ist. Ein Großteil stimmt einer Reformierung zu. Die Dimension der Radikalität ist eher ein Streitpunkt.

derStandard.at: Es sind also immer mehr Menschen, mit denen Sie sprechen, der Meinung, dass Privatsphäre in der Form, wie sie bisher oder vor den sozialen Netzwerken bestand, ausgedient hat?

Heller: Zumindest habe ich schon lange nicht mehr mit jemandem gesprochen, der die Position "Wir müssen alles tun, um die Privatsphäre zu schützen" vertreten hat. Da bin ich mit meinem Buch nicht alleine, es hat sich inzwischen eine Bewegung formiert. Jene, die Facebook und Co. nicht nutzen, können die Geschwindigkeit dämpfen, mit der man ins kalte Wasser der Post Privacy stürzt. Gerade Facebook und seine Gewalt ist nicht zu unterschätzen, mit der sie versuchen die Entwicklung zu ihren eigenen Gunsten voranzutreiben. Während man den Eindruck heuchelt, man würde bloß einen Trend abbilden, ist man treibende Kraft hinter der Entwicklung.

derStandard.at: Ohne Facebook gewinne ich also ein bisschen Zeit vor dem Kontrollverlust meiner persönlichen Daten?

Heller: Ja, einige Jahre bekommt man dadurch schon. Im Zweifelsfall gerät man durch die Freunde in die Maschinerie hinein. Das große Problem von Facebook ist das Ungleichgewicht der Informationen - Facebook weiß alles über uns, wir wissen nichts über Facebook. Diese Daten müssen symmetrisch sein. (derStandard.at, 31.1.2012)