Es ist kalt, grau und um drei Uhr nachmittags schon fast wieder finster. Der Wind peitscht vom Meer her durch die nahezu menschenleeren Straßen Helsinkis. Brrrr, denkt da jeder, und zu Recht. Doch wer Finnland wirklich erleben will, muss den nordischen Winter zumindest einmal erfühlt haben. Nur dann lässt sich alles rundum begreifen.
Ganz unmittelbar ist gute Ausrüstung dafür entscheidend: Haube, Daunenmantel und dicke Stiefel braucht jeder Finne, einfach nur um zu überleben. Die Kinder sitzen in dicken Fellsäcken in ihren Kinderwägen, jene, die schon laufen können, tragen hell reflektierende Warnwesten, damit sie in der Dämmerung von den Autos nicht überfahren werden. "Wir sind die Kälte gewöhnt, ich mag sie", sagt Henri Anundi lakonisch. Er ist knapp 30, spielt in einer Hardrockband und arbeitet im finnischen Fremdenverkehrsbüro. Derzeit hat er alle Hände voll zu tun. Ab morgen ist Helsinki Welthauptstadt des Designs. 16 Millionen Euro wurden investiert, mehr als 100 Events wird es im Laufe des Jahres geben. Man will die Ästheten dieser Erde ins karge Land hoch im Norden locken. Stress hat Anundi nicht. "Hektik ist nicht finnisch", sagt er.
Helsiniki ist hervorragend für den Winter gerüstet. Lange muss niemand hier draußen sein, das Leben spielt sich zum Beispiel auch in den vielen Shoppingmalls ab. Sie sind hell erleuchtet und warm. Hier finden Bauernmärkte statt, verbringen Mütter ihre Zeit, weil es Indoor-Spielplätze gibt. Der schönste Moment ist jedes Mal wieder, von der Kälte in die Wärme zu kommen. Haube ab, Mantel auf. Aaah.
"Die Natur ist bei uns sehr präsent, in Italien sind es wahrscheinlich eher die Menschen", definiert Bildhauer Björn Weckström das, was finnisches Design aus seiner Sicht ausmacht. Olavi Lindén, lange Jahre Industriedesigner beim finnischen Paradeunternehmen Fiskars (die Scheren mit den orangen Griffen!), präzisiert: "Wir sind ja nicht hier, um Dekoratives zu machen, dafür haben wir keine Zeit. Wenn die Temperaturen draußen bei minus 30 Grad liegen, muss ein Schlitten einfach funktionieren. Funktionalität reflektiert alles, was wir tun." Und der Möbeldesigner Simo Heikkilä ergänzt: "Ich will Dinge machen, die jahrelang halten, und zwar aus Materialien, die es bei uns gibt, und die unsere Handwerker bearbeiten können."
Pionier und Gottvater
Ganz ähnlich dachte auch schon der Architekt Alvar Aalto, "Pionier und Gottvater des finnischen Designs", wie ihn viele nennen. Wer nach Helsinki kommt und an moderner Architektur interessiert ist, will an ihm sicher nicht vorbei. Wer seine gestalterischen Ideen nicht nur sehen, sondern gleich auch ausprobieren will, geht am besten ins Ravintola Savoy auf den Eteläesplanadi, der Prachtstraße Helsinkis. Das Restaurant im obersten Stockwerk des Industriepalasts hat Aalto zusammen mit seiner Frau Aino gestaltet. Warmes, dunkles Holz, eigentümlich gefiederte Leuchten, jeder Tisch, jeder Stuhl, jeder Teller und jede Vase wie aus einem Guss. Wer hier zu Mittag isst und den Blick über die düstere Stadt gleiten lässt, fühlt sich unendlich wohl. Gleich unten im Erdgeschoß ist Artek, das von Aalto gegründet Design-Label, in dessen Shop bis heute seine längst weltbekannten Entwürfe wie etwa der dreibeinige Hocker oder der elegante Stuhl mit den geschwungenen Armlehnen verkauft werden. Das Gute an Helsinki: Die Stadt, die ehemals zu Schweden, dann wieder zu Russland gehörte und erst 1917 unabhängig wurde, ist klein und überschaubar. Ideal für ein Wochenende. Auch zu Aaltos Finlandia-Haus im neueren Teil der Innenstadt ist es nur ein Katzensprung. Dort ist es im Winter besonders grau, Aaltos Bau aus strahlend weißen Carrara-Marmor ist wie ein Bad im Licht.
Gleich daneben liegt Helsinkis brandneue Musikhalle, geplant vom finnischen Architekten Marko Kivistö. Das ist neue finnische Architektur, für die Kivistös Büro LPR Architects verantwortlich zeichnet - ein spektakulärer Bau aus Glas und Kupfer mit noch spektakulärerer Akustik. Wer in Helsinki ein Abendprogramm sucht, sollte sich eine Konzertkarte kaufen. Noch ein Haus weiter ist die Ausstellungshalle Kiasma, gebaut 1998 vom amerikanischen Architekten Steven Holl. Sie ist nicht nur ein Museum, sondern ein sozialer Treffpunkt. Denn überall drinnen ist es schöner als auf den Straßen.
Deshalb ist den Finnen auch ein gemütliches Zuhause sehr wichtig. "Die meisten Finnen sind ja, ohne es zu wissen, schon immer in finnischem Design aufgewachsen", sagt Kati Laakso vom Headquarter des Organisationsbüros für die "World Design Capital" und meint die Möbel oder zumindest die Teller oder Gläser von Arabia oder Iittala, die weit über die Grenzen des Landes hinaus berühmt sind.
Wer die Fabrik und vor allem das Outlet (Helsinki ist teuer!) besuchen und eventuell sogar dort einkaufen will, nimmt vom Bahnhof aus die Straßenbahnlinie 6 und fährt durch Helsinkis Vorstädte bis zur Endstation. Heute ist neben der Fabrik mit ihrem langen Schlot auch die Kunstuniversität - wen wundert's: sie ist nach Alvar Aalto benannt - untergebracht. In den Gebäuden sind Fiskars sowie die Glaserzeugungen von Iittala und Arabia vereint. Auch eine kleine Ausstellung über die Geschichte der hier hergestellten Glas- und Keramikwaren gibt es. Und wer durch die unaufgeregte Schau von Objekten aus den vergangenen 80 Jahren wandelt, sieht überall den Bezug zur Natur. "Wir haben hier knappe Ressourcen", sagt der Designer Yrjö Wihermheimo, "physisch, mental und sozial, das gibt uns eine gewisse Stärke". Elche, Schneehühner, Eulen: das sind Motive, die in Variationen über die Jahrzehnte dekliniert werden. Dazu passt, was der Möbeldesigner Antti Kotilainen sagt: "Design ist schon auch Spaß, aber manchmal pisst es dich auch irrsinnig an". Übrigens: "Finnen würden sich niemals als Skandinavier bezeichnen, sondern sich als Menschen des Nordens verstehen wollen, auch was Design betrifft", stellt die junge Finnin Maarit Pitkänen von der Tourismus-Agentur klar.
Das hat vor allem historische Gründe. Finnland ist eine junge Nation, noch nicht einmal 100 Jahre alt. Vorher war man unter schwedischer, dann unter russischer Herrschaft. "Wir Finnen waren Bauern, einfache Leute", erklärt auch ihr Kollege Henri Anundi und sagt damit viel über das finnische Selbstverständnis. Die Designer und Architekten bauen nicht nur Gebäude und Objekte, sondern immer auch ein Stück Selbstverständnis.
"Sisu" ist für den Nationalcharakter der Finnen übrigens eine ganz zentrale Eigenschaft. "Es ist eine Mischung aus Ausdauer, Zähigkeit und Sturheit, die dem Langläufer Paavo Nurmi zu seiner Olympiamedaille verholfen hat und die finnische Armee im Zweiten Weltkrieg den Angriff der übermächtigen Sowjetunion hat zurückschlagen lassen. Gegen Sisu hat nicht einmal eine Betonwand eine Chance", schreibt Rasso Knoller in seinem eben erschienen Länderporträt Finnland (Christoph-Links-Verlag). Seit kurzem positioniert sich Finnland nun aber auch als Tor in den Osten. Einzigartig ist die Möglichkeit, von Helsinki aus nach St. Petersburg mit dem Fährschiff der St. Peter Line zu fahren, und zwar ohne Visum mit einem limitierten Aufenthalt von 72 Stunden. Wer die Fülle an Bauwerken in Helsinki vermisst, wird sie in St. Petersburg im Übermaß finden.
Made in Finnland
Im selben Buch würdigt Knoller übrigens eine komplett unterschätzte finnische Erfindung, die den praktischen Charakter des Landes hervorragend zum Ausdruck bringt. Astiankuivauskaappi (alle finnischen Worte werden immer auf der ersten Silbe betont!) ist ein Abtropfschrank für Geschirr, der in jedem finnischen Haushalt zu finden ist. Europa muss er aber erst erobern.
"Offenheit" ist jedenfalls ein Schlüsselbegriff für Helsinki als Welthauptstadt des Designs. So werden die jungen finnischen Designer ihre Büros öffnen, im April werden Font-Walks stattfinden, die sich auf die grafische Gestaltung der Stadt spezialisieren. Im Designviertel der Stadt rund um die Uudenmaankatu haben die Grafikdesigner in den vielen Shops ihre Spuren hinterlassen.
"Vielleicht ist die einzig wirkliche finnische Designaufgabe, die noch auf eine Erfüllung wartet, das Gestalten einer Sauna", meint der Innenarchitekt Kai Korhonen. Schon Aalto hatte vage Pläne. Im Rahmen der Welthauptstadt soll das Nationalheiligtum neu definiert werden. Kutuurisauna heißt das Projekt, an das sich bisher kaum ein Designer herangewagt zu haben scheint - wahrscheinlich weil diese Art der Wärme einfach zu lebenswichtig ist. (Karin Pollack/DER STANDARD/Printausgabe/31.12.2011)