Wie ernst zu nehmen ist eine Politik, die immer nur auf "quick wins" setzt, statt langfristig wirksame Lösungen voranzutreiben? - Die New Yorker Börse in ausgelassener Silvesterstimmung

Illustration: Robert Jesse
Fred Luks über die "Politik des Aufschubs".
Foto: privat

Beim nächsten Klimagipfel gelingt der große Durchbruch! Diesmal ist der Euro wirklich gerettet! Bildung - ja, total wichtig! Zwischen Ankündigung und Ausführung kann man in letzter Zeit etwas beobachten, das man als Politik des Aufschubs bezeichnen könnte. Die Klimapolitik ist vielleicht nur ein besonders abstruses Beispiel für diese Politikform. Nachdem in Kopenhagen der Durchbruch nicht gelang (in Cancún auch nicht), hat man sich neulich immerhin geeinigt - nämlich darauf, zunächst einmal gar nichts zu tun. In Durban wurde allen Ernstes beschlossen, nichts zu beschließen, dafür bis 2015 etwas zu beschließen und diesen Beschluss dann 2020 in Kraft zu setzten. In Anlehnung an den Künstler Francis Alÿs - dessen Politics of Rehearsal den entwicklungspolitischen Diskurs aufs Korn nimmt - kann man von politischer Pornografie sprechen: Die Erregung entsteht durch die versprochene, aber immer wieder verwehrte Befriedigung.

Leider ist diese Form des Polit-Pornos total ungeil. Denn was wir erleben, ist oft ein Verscherbeln der Zukunft zugunsten vermeintlicher Gegenwartsinteressen. Dem herrschenden Wirtschaftsmodell kommen die ökologischen, ökonomischen und sozialen Grundlagen abhanden, und es passiert: weitaus zu wenig. Umwelt, Wirtschaft, Bildung - nicht nur auf diesen Politikfeldern dominiert die kurzfristige Perspektive offenbar so sehr, dass langfristige Ziele dem Aufschub anheimfallen.

Aufschieben heißt, etwas nicht zu tun, obwohl es fällig ist. Einen Text schreiben. Schulden zurückzahlen. Das Klima schützen. Die anstehende Prüfung vorbereiten. Wer aufschiebt, unterlässt etwas, obwohl er oder sie handeln sollte. Manche Leute leiden so sehr darunter, dass sie sich medikamentös behandeln lassen. Prokrastination - diese sprachlich etwas sperrige Diagnose kann man nicht nur auf säumige Autoren und aufschiebende Studentinnen anwenden, sondern auch auf Leute, die gesellschaftliche Verantwortung tragen, zum Beispiel für Klimaschutz, Wirtschaftspolitik und für Universitäten.

Wer prokrastiniert, hat oft Probleme mit der richtigen Prioritätensetzung. Statt komplizierte, mühsam zu erklärende oder vielleicht erst langfristig wirksame Aktionen zu setzen, tut man etwas, das nicht so beschwerlich ist und das sichtbare Erfolge verspricht. Max Goldt beschreibt in seinem schönen Essay über Prekariat und Prokrastination "den typischen Tag eines Prokrastinierers". Der Wiedererkennungswert rechtfertigt ein längeres Zitat: "Der Mann, dieser arme Mann, der so dringend eine Schreibarbeit erledigen müsste, dazu aber nicht in der Lage ist, weil er Angst hat, er könnte im Verlauf der Arbeit an einen Punkt kommen, an dem er nicht weiterweiß, oder an eine Stelle, an der ihm klar wird, dass er auf dem falschen Weg ist, weswegen er gar nicht erst anfängt, sich auf einen Weg zu machen, dieser arme, arme Mann beginnt nun, sämtliche Gläser, Teller, Pfannen, Töpfe und so weiter aus seinen umfänglichen Küchenschränken herauszuholen, um die Abstellböden in den Schränken mit feuchtwarmen Tüchern abzuwischen."

Hat das etwas mit den armen, armen Akteuren des politischen Prozesses zu tun? Fangen auch Umwelt-, Wirtschafts- und Bildungspolitiker gar nicht erst an, sich auf den Weg zu machen, weil sie Angst vor einem Punkt haben, an dem sie nicht weiterwissen oder merken, dass sie auf dem falschen Weg sind? Fehlt Entschlossenheit aus Furcht davor, etwas falsch zu machen?

Vorgetäuschter Tatendrang

Wenn man sich die Machos und Machoinnen der Weltpolitik so anschaut, erscheint das als abwegiger Gedanke. Tatendrang, wohin man schaut. Wirklich? Oder richten auch diese Männer und Frauen ihre Aufmerksamkeit nicht vielmehr aufs feuchtwarme Küchenschränkeauswischen, genauer: auf Felder, die sichtbare "Erfolge" versprechen, ohne die eigentlichen Probleme zu beeinflussen?

Gegen symbolische Politik ist grundsätzlich überhaupt nichts einzuwenden. Aber mit Blick auf das aktuelle Verhältnis von Problemlagen und Problembearbeitung kann man ohne viel bösen Willen eine ungute Schräglage erkennen. Wir sind Zeugen einer Politik des Aufschubs, die zu wenig auf die Reihe bekommt, weil sie zu sehr mit quick wins, ökonomistischen Weltinterpretationen und funktionalen Äquivalenten zum Küchenschränkeauswischen beschäftigt ist.

Aufmerksamkeitsökonomie

Ein Problem dabei: Irgendwas ist immer. Aufmerksamkeit ist ein knappes Gut. Und: Man kann nicht alles gleichzeitig machen. Wer Küchenschränke feuchtwarm auswischt, kommt eher nicht zum Schreiben. Wer damit befasst ist, vermeintlich wirtschaftliches Wachstum anzukurbeln, hat vielleicht zu wenig Aufmerksamkeit, sich um Klimaschutz zu kümmern. Wer dafür kämpft, dass die Bundeshymne "gegendert" wird, kommt möglicherweise nicht dazu, sich mit konkreten Strukturveränderungen in Sachen Geschlechtergerechtigkeit zu befassen. Wer mit parteiinternen Auseinandersetzungen beschäftigt ist, hat eventuell keine Zeit für Bildungsreformen. Und so weiter. Solange politisch Handelnde in der Aufmerksamkeitsökonomie vor allem an Kurzfristigkeit und Sichtbarkeit orientiert sind und weniger an Langfristigkeit und Wirksamkeit, stehen die Chancen für eine gerne als "nachhaltig" bezeichnete Politik schlecht. Hier ist ganz sicher die Zivilgesellschaft gefordert. Aber die Wirkung der Empörung von Wutbürgern dürfte sich in Grenzen halten, solange es nicht auch Mutpolitiker gibt, die sich über tagespolitische Kleingeistigkeiten hinwegsetzen.

P.S.: Leider wird die Lage noch dadurch verkompliziert, dass eine Politik des Aufschubs paradoxerweise durchaus sehr nützlich sein kann - nämlich gegen einen Populismus der einfachen Lösungen. Wo den Leuten verkauft werden soll, dass es für komplexe Probleme simple "Lösungen" gibt ("Kein Geld nach Brüssel!", "Mehr Wachstum!", "Gemeinwohlökonomie! "), könnte ein mit Nachdenken und Reflexion verbundenes Innehalten und Zaudern durchaus positiv wirken. Aber das ist eine andere Geschichte. (DER STANDARD-Printausgabe, 02.01.2011)