Es wäre gute Werbung für die Kirche, wenn Christen ein Stück erlöster aussehen würden, meint Michael Landau.

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Standard: Die Caritas hat 2011 in Wien mehr Essen verteilt als je zuvor. Wer versagt da sozialpolitisch?

Landau: Wir müssen aufpassen, dass aus der Wirtschaftskrise keine soziale Krise wird - sichtbare Obdachlosigkeit ist nur die Spitze des Eisbergs. Mein Eindruck ist, dass eine Neiddebatte gegen sozial Schwache angezündet wird. Das Wort Sozialschmarotzer ist eine ideologische Keule derer, die sich vor einer Gerechtigkeitsdiskussion fürchten. Das sind gefährliche, politische Wortmeldungen.

Standard: Glauben Sie, dass man in der derzeitigen Budgetsituation an neuen Steuern vorbeikommt?

Landau: Um Erbschaftssteuer und vermögensbezogene Steuern ist eine sachliche Diskussion zu führen. Das darf kein Tabuthema sein. Ich erinnere daran, dass es bei der Pflege heute schon eine Erbschaftssteuer gibt, die bis zu 100 Prozent beträgt: Wenn jemand das ganze Erbe aufbrauchen muss, bevor er Unterstützung erhält.

Standard: Die Caritas fordert, dass in den Wintermonaten der Strom nicht abgedreht werden darf. Wie weit orten Sie politische Bereitschaft, darüber zu reden?

Landau: Die soziale Dimension von Energiearmut ist noch weitgehend unberücksichtigt. Aber ich habe den Eindruck, dass Energie-Anbieter sensibler werden.

Standard: Ist das Thema Energiearmut nicht die Nagelprobe für eine linke Stadtregierung?

Landau: Jetzt wird geredet, aber für uns zählt am Ende, was herauskommt. Jetzt, wo das Sparpaket konkret wird, sollte klar sein, dass mit geringen Effekten großer Schaden angerichtet werden kann. Es geht darum eine Sozialverträglichkeitsprüfung für jede budgetäre Maßnahme einzuführen. Ich habe Sorge, dass es zu einer Gefährdung des sozialen Friedens kommt.

Standard: In Österreich wird viel gespendet. Ist das auch eine Form der Gewissensberuhigung?

Landau: Das reicht bei vielen tiefer. Wir sehen, dass sich mehr Menschen in unseren Projekten engagieren. Jetzt ist vielleicht auch die Zeit, die Grenzen der Anständigkeit zu diskutieren.

Standard: Ruht sich die Politik auf der Spendenfreudigkeit aus?

Landau: Die Versuchung, Verantwortung abzuwälzen, ist da. Aber der Sozialstaat ist kein beliebig verschlankbares Anhängsel zum Wirtschaftsstandort, sondern notwendiger Ausdruck für die Würde jedes Menschen, eine Investition in das Miteinander.

Standard: Wie viele Spendenaufrufe sind zumutbar?

Landau: Die Menschen sind erwachsen und können selbst entscheiden. Wenn 313.000 in Österreich ihre Wohnungen nicht heizen können, heißt das, Mindestpensionisten, die im Mantel in der Wohnung sitzen, und Kinder, die zu Hause frieren.

Standard: Wie sehr konkurrieren Katastrophen miteinander?

Landau: Es hat lange gedauert, deutlich zu machen, dass am Horn von Afrika wirklich Menschen verhungern. Wo es um soziale Themen geht, sind Politiker oft erstaunlich weit weg von der Realität der Menschen. Wer Mindest- sicherungsbezieher als Sozialschmarotzer diffamiert, hat einfach keine Ahnung. Die Bevölkerung hat oft mehr soziales Gespür.

Standard: Beunruhigt Sie die hohe Zahl der Kirchenaustritte?

Landau: Diese kritische Distanz zur Großinstitutionen ist natürlich eine Anfrage an die Kirche. Wie sehr gelingt es, zu transportieren, dass Glaube etwas mit Freude und innerer Weite zu tun hat? Ich sehe, wie viel in Pfarrgemeinden Tag für Tag geschieht. Die sind für viele Menschen ein letztes Netz der Aufmerksamkeit.

Standard: Warum wird die Kirche nicht anders wahrgenommen?

Landau: Bis heute würde es Christen gut anstehen, wenn sie ein Stück erlöster aussehen würden.

Standard: Wie meinen Sie das?

Landau: Das hat mit innerer Weite und Freiheit zu tun. Ich habe an Kardinal König geschätzt, dass er sich für unterschiedliche Sichtweisen und Menschen interessiert hat. Es geht darum, deutlich zu machen, dass alle willkommen sind.

Standard: Wo positionieren Sie sich beim Kirchenrichtungsstreit?

Landau: Ich glaube, beide Seiten handeln aus Liebe zur Kirche. Das ist die Voraussetzung für einen ehrlichen Gesprächsvorgang.

Standard: Glauben Sie wirklich an Gesprächsbereitschaft?

Landau: Ich bin hoffnungsvoll, auch wenn die Kirche manchmal einen zeitlich anstrengenden Rhythmus hat. Der Zölibat ist irgendwann eingeführt worden und kann auch wieder abgeschafft werden. Es wäre viel gewonnen, die Dinge entspannter, redlicher, nüchterner zu diskutieren. (Andrea Heigl/Julia Herrnböck, DER STANDARD, Printausgabe, 31.12.2011/1.1.2012)