Für einen Schauprozess ist zu wenig Platz im Gerichtssaal, für einen Geheimprozess gibt es zu viel kritische Öffentlichkeit. Doch normal ist das Strafverfahren, das diese Woche in Istanbul gegen 13 Journalisten und einen Schriftsteller eröffnet wurde, keinesfalls. Die türkische Regierung lässt gegen ihre politischen Gegner verhandeln. Im zehnten Jahr an der Macht hat die konservativ- muslimische Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) das Land in einen bösen Verdacht gebracht: Die Türkei wird autoritär.

Es ist schwer, den Prozess vor der 16. Großen Strafkammer in Istanbul mit dem Bild vom Aufsteigerland Türkei in Einklang zu bringen, das die Regierung Tag für Tag beschwört: Die Türkei als eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften, demokratischer und im Inneren befriedeter denn je, eine Energiedrehscheibe, ein Land, auf das die arabische Welt mit Neid blickt und das die krisengeplagten EU-Staaten wie den früheren Feind Griechenland hoffnungslos alt aussehen lässt.

Doch zugleich greift die Polizei fast jeden Morgen vor Sonnenaufgang zu. An die 100 Journalisten sind in der Türkei im Gefängnis, mehr als offiziell in China; bei 4000 wird nun die Zahl der Untersuchungshäftlinge liegen, denen eine Mitgliedschaft im poli- tischen Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK vorgeworfen wird: Bürgermeister, Stadträte, Anwälte, Unidozenten und wieder Journalisten.

Die Verhaftungswellen in türkischen Städten nehmen sich aus wie eine Hexenjagd auf politisch Andersdenkende, die so massiv ist, so weit in die Gesellschaft reicht und so wenig Sinn für das rechte Verhältnis erkennen lässt, dass sie die Frage nach dem langfristigen Ziel aufwirft: eine muslimisch gesteuerte Business-Demokratie? Ein AKP-Staat, in dem sich Erdogan auf lange Zeit einrichtet, und 2014, nach 13 Jahren im Amt des Regierungschefs, noch eine, vielleicht zwei Amtszeiten als Staatspräsident anhängen will? Und wozu - nur um der persönlichen Macht willen?

Die wöchentliche Ansprache an die Parlamentsabgeordneten seiner Partei - von Nachrichtensendern jeden Dienstag übertragen - führt anschaulich vor, wie in all den Regierungsjahren die innere Demokratisierung der AKP zurückgeblieben ist. Erdogan erschien lange als Modernisierer, ein Demokrat mehr aus Zwang als aus Herkunft und Überzeugung. Er brachte das Kunststück fertig, drei Parlamentswahlen in Folge mit zunehmender Stimmenzahl zu gewinnen. Und gewiss, Erdogan und seine Partei haben den Machtkampf gegen die Armee der Putschgeneräle für sich entschieden. Doch an deren Stelle, so scheint es nun, ist die Polizei getreten. Sie kontrolliert, hört mit, verhaftet.

Das Verstörende ist die Dauerbe- rieselung des türkischen Publikums durch die Regierung mit Erfolgsmeldungen vom demokratischen Kampf, ihr eklatanter Mangel an Selbstreflexion, die Zurückweisung jeglicher Kritik, die seelenruhige Behauptung von offenkundig Unrichtigem. Kein Journalist sitze in der Türkei im Gefängnis wegen seiner beruflichen Tätigkeit, ist etwa einer der Standardsätze von Europaminister Egemen Bagis. Doch eine Reporterin der Tageszeitung Birgün ist gerade zu einem Jahr Haft verurteilt worden wegen eines vier Zeilen langen Zitats in ihrem Artikel - und nicht, weil sie Hühner gestohlen hätte oder Blaupausen für eine Atombombe. (DER STANDARD-Printausgabe, 30.12.2011)