Jürgen Lagger geht mit seinem Roman "Città morta" formal und inhaltlich ein Risiko ein – und gewinnt .

Foto: edition laurin

Wien – In Thomas Manns Novelle Tod in Venedig denkt die Hauptfigur Aschenbach, "dass beinahe alles Große, was dastehe, als ein Trotzdem dastehe, trotz Kummer und Qual, Armut, Verlassenheit, Körperschwäche, Laster, Leidenschaft und tausend Hemmnissen zustande gekommen sei". Wobei der alternde Schriftsteller Gustav von Aschenbach, der in der Novelle dem jungen Tadzio nachstellt, weniger besagtem Heroismus der Schwäche frönt als danach trachtet, sich als Schreibender zur "Herrschaft im Reiche der Schönheit" aufzuschwingen.

Um Schönheit, Gegenwärtigkeit und Vergänglichkeit geht es auch in Jürgen Laggers Roman Città morta (edition laurin bei innsbruck university press), der im allerersten Satz ein Zitat aus Manns Tod in Venedig aufnimmt: "Mir ist, als lasse sich nicht alles ganz gewöhnlich an."

Ungewöhnlich lässt sich auch Laggers neues, nunmehr drittes Buch an. Denn der 1967 in Kärnten geborene Autor und Verleger (Luftschacht-Verlag) spannt mit Thomas Manns Venediger Novelle und Rom, wo Lagger das Buch spielen lässt, seinen Roman in einen fast erdrückend großen Referenzrahmen. Ingeborg Bachmann, Brinkmann, Josef Winkler, Nizon und Wolfgang Koeppen – um nur einige deutschsprachige Gegenwartsautoren zu nennen – haben über Rom geschrieben. Und auch die von Mann übernommenen Themen Tod, Eros, Lebenskrise sind nicht wirklich neu.

Das ist Lagger bewusst, der mit Città morta ein nicht unbeträchtliches Risiko eingeht, vor allem formal. Der Roman entwickelt sich auf drei Stufen und ebenso vielen ineinander verwobenen Strängen.

Da ist einmal die äußere Handlung (ein Mann kommt nach Rom, trifft einen jungen Römer, verliebt sich, verbringt eine Nacht mit ihm und bleibt allein zurück), die in Normalschrift gedruckt ist, auf einer zweiten Ebene wird in Klammern wiedergegeben, was der Ich-Erzähler innerlich wahrnimmt oder kommentiert, das von ihm Gedachte schließlich ist kursiv gedruckt. Ein Beispiel:

Ich komme die Treppe wieder herunter
(nicht mehr ganz sicher
was habe ich eigentlich gesucht?
[in mir aber ein enges Gefühl von Verlust]
wen oder wozu überhaupt?)

Alle drei strikt in der Gegenwartsform gehaltenen Ebenen fließen fast punktlos im Flattersatz über die Seiten und vermitteln so optisch das Bild eines stetigen Flusses und des Nebeneinanders. In Città morta geht es nicht um erzählte Vergangenheit, es geht um das Jetzt, den flüchtigen Moment, die rasche Geste, Unmittelbarkeit und den Augenblick im wahren Sinn des Wortes.

Außenraum Stadt

Wie im Leben geschehen die Dinge in diesem Roman nicht nacheinander, sondern gleichzeitig. Durch den ausgeprägten optischen Sinn des Erzählers, der beispielsweise ein architektonisches Detail wahrnimmt, dazu eine Frau mit Kind beobachtet und dabei etwas ganz anderes denkt, führt Lagger den Leser Stufe um Stufe in die Tiefe seiner Figur, in deren Innenwelt sich der Außenraum Stadt abbildet. Subtil werden Sprach- sowie Wahrnehmungsschichten freigelegt und die Themen Realität und Einbildung, Oberfläche und Tiefenstruktur spiralförmig umkreist. Der Autor bedient sich dabei zahlreicher Spiegelungen und Symmetrien - vor allem in beobachteten Paarbeziehungen, auch gleichgeschlechtlichen – en passant klingen mythologische Bilder (Hyakinthos und Apollon, Narziss und Echo) an.

Wer dieser Ich-Erzähler ist, der zu Beginn des Romans auf den Bahnsteig von Roma Termini gleichsam ausgespuckt wird und in die Geschichte mit dem jungen Römer taumelt, weiß der Leser auch nach 180 Seiten nicht. Seine Vergangenheit bleibt unklar, die Zukunft ungewiss, aber er lebt, ganz im Gegensatz zu Manns Aschenbach.

Laggers namenloser Erzähler kommt aus dem Nichts an, um in jener Stadt, die wie wenige für reine Gegenwart und ewige Geschichte, für Liebe, Vorläufigkeit und Zerfall steht, verlorenzugehen. Es gehört zu den nicht geringen Vorzügen dieses Buches, dass man sich seinem liebenswerten Protagonisten am Schluss verbundener fühlt als manch anderen Romanfiguren, die man über hunderte Seiten begleitet hat.

Am Ende ist der Erzähler, der nach der Liebesnacht allein und vom Sodbrennen des Ich gequält zurückbleibt, Italo Calvinos Herrn Palomar näher als Manns Aschenbach. Calvino zitierend heißt es in Città morta: "Erst wenn man die Oberfläche der Dinge kennengelernt hat, kann man sich aufmachen, um herauszufinden, was darunter sein mag".

"What you see is what you get" sagt man. In der Liebe stimmt das fast nie, man kriegt – im Guten wie im Schlechten – immer mehr, als man zunächst sieht. Das gilt auch für diesen Roman. Zum Glück. (Stefan Gmünder / DER STANDARD, Printausgabe, 24./25./26.12.2011)