Dominique Meyer: "Ich glaube nicht, dass das heutige System noch lange hält, die Demokratie wird sich wehren und die Werkzeuge wieder in ihre Hand bringen."

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Standard: Passiert Ihnen das öfter, dass Journalisten zwei Mal antanzen, weil das erste Interview im Aufnahmegerät verschwunden ist?

Meyer: Kommt vor. So ist das mit der Technik.

Standard: Sie haben immer Musik im Kopf. Als ich vorgestern bei Ihnen war, war es der Rosenkavalier. Was hören Sie jetzt?

Meyer: Rosenkavalier, noch immer, zweiter Teil des Monologs der Marschallin. Sie spricht darüber, wie die Zeit vergeht.

Standard: Sie sind seit rund einem Jahr Direktor der Staatsoper. Vergeht die Zeit zu schnell?

Meyer: Viel zu schnell. In unserem Beruf besonders, weil wir dauernd in drei verschiedenen Zeiten leben: Die Zeit der Planung, die vier, fünf Jahre in die Zukunft geht. Der Tag, an dem wir leben und an dem alles Mögliche passieren kann. Und dann hat man auch die Vergangenheit im Kopf: die Referenzen zu früheren Sängern. Jetzt zum Beispiel hat Anja Harteros die Marschallin so schön gesungen, also zieht man sofort Parallelen zu früheren Sängerinnen. Ich hatte die erste Rosenkavalier-Vorstellung der gerade verstorbenen Sena Jurinac gewidmet, sie hat an diesem Haus im Rosenkavalier insgesamt 128 Mal den Octavian und die Marschallin gesungen. Als Marschallin hat sie übrigens 1982 hier ihren Bühnenabschied gefeiert. Viele haben jetzt gesagt: Das war vielleicht die schönste Marschallin seit Jurinac. Wir wissen also genau, was in vier Jahren sein wird, aber nicht, was am heutigen Abend passieren wird. So stürzt etwa um elf Uhr vormittags eine Mitarbeiterin in mein Zimmer und sagt: Frau Soundso hat ihre Rolle abgesagt - für 2014. Das ist skurril.

Standard: Das Theatre des Champs Elysees TCE, wo Sie zuletzt waren, hat Ihnen zum Abschied die beiden Sitze aus der Direktoriumsloge geschenkt, da sind Sie 1650 mal drauf gesessen...

Meyer: ...ja, meine Kollegen dachten, diese Sitze kann man niemandem mehr zumuten. Die Sessel stehen jetzt bei mir daheim, dafür, dass sie ausgebaut werden durften, brauchte man einen Vorstandsbeschluss, weil das TCE unter Denkmalschutz steht.

Standard: Hoffen Sie nun auf die Sitze der Direktionsloge der Staatsoper?

Meyer: Nein. Ein schönes Geschenk ist wie eine schöne Idee: Kann man nicht wiederholen.

Standard: Hier an der Wand hängt Gustav Mahler, einer Ihrer Vorgänger. Vom Telefon in seiner Loge rief er in der Vorstellung den Inspizienten an und schimpfte, wenn was nicht passte. Tun Sie nicht, oder?

Meyer: Ich schimpfe nie. Aber sicher gehe ich, wenn etwas schiefgeht, auf die Bühne. Ich will, dass meine Mitarbeiter wissen, dass ich da bin, und ich will verstehen, warum etwas schief gegangen ist, damit man das korrigieren kann. Unlängst etwa, bei Onegin, geriet ein Stück Plastik in die Schneemaschine, sodass es laut schneite.

Standard: Kein großes Drama...

Meyer: Nein, aber anstrengend für Sänger wie Publikum. Unser Publikum zahlt bis zu 250 Euro, und selbst wer drei Euro zahlt, hat das Recht, eine korrekte Aufführung zu erleben. Und es passieren auch Dramen: In der Pariser Oper hat sich eine Tänzerin beide Knie gebrochen, während der Vorstellung.

Standard: Da war es vorbei für sie.

Meyer: Es war nicht vorbei. Sie hat sehr gelitten und kam zurück.

Standard: Besser als Thomas Muster. Was ist denn die wichtigste Eigenschaft für Tänzer und Sänger?

Meyer: Mut.

Standard: Wofür am meisten?

Meyer: Dafür, auf die Bühne zu gehen, zu diesem Löwen gegenüber.

Standard: Der Löwe Publikum?

Meyer: Ja. Ab und zu, wenn ich nachts das Opernhaus sehe, denke ich: "Der Löwe schläft jetzt." Es ist seltsam, das große Haus zu betrachten, wie es so ruhig da steht, wissend, dass es von sieben Uhr morgens bis 23 Uhr so stürmisch gewesen ist.

Standard: Waren Sie eigentlich schon in allen Räumen?

Meyer: Nein. Die Staatsoper ist ja riesig wie eine Stadt. Allein die Heizungs- oder die Stromanlage: riesig.

Standard: Ihre Stromrechnung ist sicher auch riesig.

Meyer: Das ist korrekt.

Standard: Welches ist eigentlich Ihr Lieblingsort an der Oper?

Meyer: Die erste Reihe im Zuschauerraum während der Proben. Dort sitze ich immer. Da sehe ich, wie etwas entsteht und bin den Sängern und dem Orchester nahe.

Standard: Braucht es für den Auftritt oder fürs Verbeugen mehr Mut?

Meyer: Kommt drauf an. Manchmal geht es nur um eine heikle Stelle, einen Ton, einen Schritt. Stellen Sie sich vor, Sie hielten eine Ansprache vor 2300 Leuten...

Standard: Will ich mir gar nicht vorstellen.

Meyer: ... und jetzt stellen Sie sich vor, Sie müssten eine schwierige Arie singen, vor 2300 Richtern. Da braucht es wirklich viel Mut.

Standard: Und wofür brauchen Sie Mut?

Meyer: Ich brauche keinen Mut.

Standard: Mir tut es so leid, wenn wer ausgebuht wird. Vor kurzem hatte das Totenhaus von Janáček Premiere, die Inszenierung von Peter Konwitschny wurde ausgebuht.

Meyer: Ich kann kein Buh ertragen. Ich finde Ausbuhen total unhöflich und respektlos. Ich verstehe natürlich, dass das Publikum etwas nicht mag, seine Erwartungen nicht erfüllt sieht oder etwas nicht versteht - aber darf man zu jemandem böse sein, der sein Bestes gegeben oder es zumindest versucht hat? Wobei: Konwitschny sind Buhrufe völlig, völlig egal.

Standard: Sie sind dagegen, Opern zwanghaft zu aktualisieren. Konwitschnys Totenhaus spielt nicht im sibirischen Arbeitslager, sondern im Loft von Mafia-Bossen. Das ist Ihnen nicht zu verfremdet?

Meyer: Nein, ich könnte mir sogar vorstellen noch viel weiter zu gehen: zu den Investmentbankern der Wall Street zum Beispiel.

Standard: Es gibt aber auch fragilere Künstler als den Dresdner Regisseur Konwitschny.

Meyer: Sicher, und man trifft sie mit dem Ausbuhen wirklich. In Paris machte ich mit einem sehr erfahrenen Regisseur mehrere Produktionen. Bei der zweiten wurde er ausgebuht. Nach dieser Premiere ist er verschwunden, ich habe ihn draußen auf der Straße gefunden. Er hat geweint.

Standard: In Wien sei die "Oper ein Heiligtum", sagen Sie, aber genörgelt wird hier auch.

Meyer: Wie überall. Ich habe auch nichts gegen Auseinandersetzung, die ist gesund. Einstimmigkeit, Einhelligkeit gefallen mir nicht: Was einstimmig ist, ist tot.

Standard: Was ausschließlich gefällt ist auch tot?

Meyer: Ab und zu kann etwas nur gefallen. Das ist, wie man weiß, auch Stimmungssache.

Standard: Sie stehen ja jeden Abend beim Eingang, Sie kennen Ihre Stammgäste?

Meyer: Ja, manche bringen mir sogar Geschenke mit, selbst gemachte CDs oder DVDs etwa...

Standard: Investor Martin Schlaff ist so ein Stammgast, liest oft die Partituren mit.

Meyer: Er sitzt immer in der gleichen Loge, wahrscheinlich hat er ein Abo.

Standard: Woher kommt die Leidenschaft der Wiener zur Oper?

Meyer: Ich weiß es nicht, habe aber eine Idee: Wien ist eine sehr emotionale Stadt...

Standard: ... mit grantigen Leuten...

Meyer: ... aber sehr emotionalen. Und worum geht es in der Oper? Um Emotionen, um Liebe, um Hass. Aus diesem Gefühlsboden wächst auch das sehr laute Klatschen oder das Ausbuhen, das passt schon zusammen.

Standard: Oper: vertontes Gefühl?

Meyer: Nicht nur, denn Emotion kann auch intellektuell sein. Emotion ist ja nicht nur, wenn das Herz klopft, sondern auch, wenn man im Kopf Erkenntnisse erlangt.

Standard: Sie sagen, in Wien sei Oper nicht elitär. Auch Taxler unterhielten sich darüber, unlängst hat Ihnen einer die Übertragung von Janáčeks Katja Kabanowa vorgespielt. Klingt nach Klischee.

Meyer: Stimmt aber, nehmen Sie unser Stehplatzpublikum: alt und jung, alle Gesellschaftsschichten.

Standard: Sogar Verwaltungsgerichtshof-Chef Clemens Jabloner.

Meyer: Meistens sitzt er aber.Ich sage ja nicht, dass alle Taxifahrer so sind, aber es gibt sie. Unlängst fuhr ich mit dem Sänger Bernd Weikl im Taxi, und der Fahrer begrüßte ihn sofort: "Oh, Herr Weikl, wie lange bleiben Sie in Wien?" So etwas passiert nur hier. Vor drei Jahren hatte ich ein Meeting im Hanuschhof, wegen einer Demonstration war die Stadt abgesperrt. Mein Besucher kam nicht durch. Da schilderte er einem Polizisten sein Problem. "Mit wem können Sie so einen wichtigen Termin haben?" fragte der. "Mit dem Operndirektor." "Ja, und wie heißt dieser Operndirektor?" "Der heißt Dominique Meyer". Sagte der Polizist: "Ah, der Neue, natürlich dürfen Sie durch." Das wäre in Paris unvorstellbar. Da glaubte der Polizist, dass Oper die U-Bahnstation ist. Anekdoten, aber davon könnte ich Ihnen viele erzählen.

Standard: Sie selbst singen wirklich nicht?

Meyer: Warum um Himmels willen sollte ich singen? Ich habe die besten Sänger der Welt um mich herum, den ganzen Tag.

Standard: Ihr Instrument sind Ihre Ohren, sagen Sie immer.

Meyer: Ja. Letztlich geht es in meinem Beruf darum, Besetzungen zu machen, das Gehör muss gut funktionieren. Premieren machen wir in einer Spielzeit maximal sechs, also müssen wir maximal sechs Mal über einen Regisseur entscheiden. Sänger haben wir Hunderte, da müssen wir also dauern Entscheidungen treffen. Ich habe ein Benotungssystem mit 20 Kriterien wie Koloraturfähigkeit, Klangfarbe der Stimme, Rhythmus, Intonation, Aussprache oder Aussehen. Sängerauswahl ist wie Weinkost: Man braucht ein gutes Gedächtnis und Analysefähigkeit.

Standard: Haben Sie sich je geirrt?

Meyer: Ja. Es ist auch mit Erfahrung sehr schwierig, abzuschätzen, welche Stimme in welchem Raum trägt. Sänger, die für Paris passen, müssen nicht auch für Wien passen.

Standard: Es gibt also das absolute Gehör, nicht aber die absolute Stimme?

Meyer: Ganz genau. Und es gibt Geschmacksunterschiede in den Städten. In Wien möchte man große Stimmen hören: Stimmen, die tragen, die laut sind.

Standard: Witzig, dass Sie hier gelandet sind: Sie sprechen ja extrem leise. Ihr dramaturgisches Instrument, damit man Ihnen zuhört?

Meyer: (lacht) Vielleicht war es anfangs ein Trick, aber jetzt kann ich nur noch leise sprechen.

Standard: Weil da einer Ihrer Rugby-Bälle liegt: Als wilden Spieler kann ich Sie mir nicht vorstellen...

Meyer: Früher ging es im Rugby nicht so brutal zu. Zudem braucht man im Rugby auch schmale, flinke Spieler, so einer war ich.

Standard: Gustav Mahler sagte einmal, der Wiener Operndirektor sei "ein Gott der südlichen Zonen". War Mahler ein Gott?

Meyer: Ja, denn er war in erster Linie auch großartiger Komponist und Stardirigent seiner Zeit. Deswegen wäre es auch ein Blödsinn zu sagen, man sei sein Nachfolger.

Standard: Karl Böhm, Dirigent und Staatsopernchef, hätte das sagen können? Er hat Ihnen im März 1979 bei einem Konzert in Paris die Liebe zu den Philharmonikern, also zum Staatsopernorchester, und zum philharmonischen Klang eingehaucht?

Meyer: Ja, Böhm hätte das sagen können, obwohl er kein Komponist war. Ich habe hin gefiebert auf dieses Konzert, die drei Letzten (Symphonien; Anm.) von Mozart. Aber wirklich erwischt hat es mich im letzten Satz der Jupiter (Sinfonie C-Dur, Köchel-Verzeichnis 551; Anm.): diese Klangfarbe...

Standard: Können Sie das beschreiben?

Meyer: Ja. Die Streicher: so weich und so sanft und nie brutal, nie aggressiv. Und dieses Fugato so schön gespielt, die Einsätze ganz sauber, aber nie brutal. Und dann hat Böhm - er war schon sehr alt, hat kaum noch dirigiert und das Orchester hat gleichsam für ihn gespielt - dem Horn den Einsatz gegeben. Das hat mich erstmals auf das Wiener Horn aufmerksam gemacht: ein spezielles Instrument, das es nirgendwo sonst auf der Welt gibt. Diese Hörner, Oboen, Klarinetten, haben nur die Philharmoniker. Das macht ihren Klang einzigartig. Dazu kommt der Klang der Streicher, weich wie Samt. Und beim Spielen lässt ihnen der Dirigent ein bisserl Raum, da gibt es immer ein kleines Rubato, das heißt, es ist rhythmisch nicht ganz korrekt, es atmet. Das ist extrem Wienerisch, und das finde ich herrlich. Das alles habe ich an diesem Märztag 1979 entdeckt.

Standard: Der März hat es Ihnen überhaupt angetan. Im März 2007 haben zwei Betriebsräte der Staatsoperorchesters Sie bei einem Konzert der Wiener Philharmoniker in Paris gefragt, ob Sie sich nicht für den Staatsopernjob bewerben wollen. Staatsoperndirektor: Ihr Traumjob?

Meyer: Das war am 17. März 2007. Einer der beiden ist leider schon gestorben, sofort nachdem er in Pension gegangen war. Er hat so schnell und Wienerisch gesprochen, dass ich ihn nicht verstanden habe. Seinen Kollegen habe ich verstanden, der hat gesagt: "I versteh ihn a net." Aber wissen Sie: Ich habe nie davon geträumt, Staatsoperndirektor zu werden, bin aber sehr glücklich, es zu sein. Ich will nicht unbescheiden sein, aber es ist ein schwieriger Job: Wir haben 1000 Mitarbeiter, 300 Vorstellungen im Jahr, da muss schon ein großer wirtschaftlicher Kunstbetrieb am Laufen gehalten werden.

Standard: Ist eigentlich das Schöne an der Musik die Flucht aus der Realität?

Meyer: Das sehe ich so gar nicht: Musik ist Realität, kann sehr sachlich sein.

Standard: Ihre Familie kommt aus dem Elsass, Musik war kein Thema, Ihr Vater ging zur Armee, um den Bauernhof seines Vaters nicht übernehmen zu müssen...

Meyer: Er wollte nicht zur Armee, aber noch weniger den Hof. Obwohl die Bauern damals völlig unabhängig waren, sie hatten alles und machten alles selbst.

Standard: Apropos: Haben Sie auf dem Operndach Bienenstöcke, wie in Paris?

Meyer: Ja. Imker kümmern sich darum.

Standard: Sie haben Ökonomie studiert, die Liebe zur Oper haben sie erst als Student entdeckt, da sind Sie immer mit Ihrem Bruder in die Oper und ins Konzert gegangen. Bevor Sie Opernchef wurden, waren Sie in der Politik und haben 1998 die Fußball WM vorbereitet. Heute kritisieren Sie die Fußballer-Gehälter - da geht's doch wie bei Künstlern auch nur um Nachfrage und Angebot?

Meyer: Da fehlen doch die Relationen. Es gab in Frankreich einen Mittelfeldspieler, der hat im Jahr soviel verdient wie das Theatre des Champs-Elysées Budget hatte: fünf Millionen Euro. Der Mann war auch noch verletzt, hat also nur ein paar Mal gespielt. Wir spielten 200 Mal.

Standard: Ein guter Sänger verdient auch viel.

Meyer: Aber weniger als ein guter Fußballspieler.

Standard:Wie sehen Sie als Ökonom Politik und Krisenbewältigung?

Meyer: In Österreichs Politik kenne ich mich nicht aus. Aus Frankreich weiß ich, dass Politiker sagen, sie könnten alle Krisen bewältigen. Aber tief drinnen wissen sie, dass sie das Werkzeug abgegeben haben. Das haben die Finanzmärkte, die Ratingagenturen in der Hand. Das ist eine Katastrophe. Ich habe immer noch eine Rede De Gaulles aus den 60ern im Kopf, er sagte: "Die französische Politik entscheidet sich nicht an der Börse." Oh, das tut weh, heute. Die Politiker laufen zitternd hinter den Märkten her, wollen ein Pferd reiten, haben aber keine Zügel.

Standard: Wie kommt man aus der Krise heraus?

Meyer: Ich glaube nicht, dass das heutige System noch lange hält, die Demokratie wird sich wehren und die Werkzeuge wieder in ihre Hand bringen. Es ist doch so: In jedem Körper lebt ein Produzent und ein Konsument. Mich stört, dass der Konsument wichtiger geworden ist als der Produzent. Das ist das Drama Europas. Außerdem ist es sehr ungesund, dass die Renditen so viel wichtiger geworden sind als die Arbeit.

Standard: Wie legen Sie Ihr Geld an?

Meyer: (lacht sehr). Ich? Wir sind keine reichen Leute.

Standard: Sie mögen Wienerisch so gern. Liegt das daran, dass sich im Elsass Deutsch erhalten hat?

Meyer: Jessas Maria, I kann net, I derf net: Das sagen wir dort immer noch. Ja, ich mag die Musik im Wienerischen, das Weiche. Ich verstehe aber nicht alles.

Standard: Ihre Großmutter hat Ihnen Guglhupf und Tafelspitz gemacht?

Meyer: Und Dampfnudeln und Schnitzel.

Standard: Der leidenschaftliche Koch Otto Schenk, der gerade seine Fledermaus-Inszenierung neu einstudiert für die Silvester-Vorstellung und für die Arte-Übertragung, kann Ihnen in Wienerisch einiges beibringen...

Meyer: Tut er auch. Nicht nur in der Sprache, auch in der Stimmung. Er ist lustig und so lebendig, so möchte ich auch sein mit 81. Seit er hier probiert, kommen immer alle zur Probe. Ich glaube, nächstes Mal verkaufe ich Karten. Das deutsche Feuilleton hat mich kritisiert, weil ich "den alten Schenk wiederhole". Ich finde das entsetzlich; nur weil Leute älter sind, muss man sie doch nicht entsorgen. Ein Künstler, der so erfahren ist, mit 80 noch so fähig und wach ist: Warum soll ich dem sagen: "Herr Schenk, bleiben Sie daheim"? Das wäre eine Sünde.

Standard: Wann hört ein Künstler auf Künstler zu sein? Wenn er stirbt?

Meyer: Sehr schwierige Frage. Bei manchen Künstlern spielt der Körper nicht mehr mit, dann bleiben sie zwar Künstler, aber sie können leider nicht mehr auftreten. Das ist sehr schmerzhaft und wie ein erster Tod. Aber manche machen dann noch in einem anderen Fach Karriere, etwa Wolfgang Schmidt. Er ist ein Rekordhalter, hat die höchste Anzahl von Siegfrieden in Bayreuth gesungen. Jetzt hat er keine Lust mehr auf diese längste und schwerste Tenorpartie der Geschichte und singt den Mime (in Richard Wagners Ring; Anm.) oder den Herodes in der Salome.

Standard: Sie werden dann Volksoperndirektor, nach der Staatsoper?

Meyer: Nein.

Standard: Bekommen Sie oft Post von Robert Meyer, dem Volksoperndirektor? Er sagt, er bekäme manchmal Ihre.

Meyer: Nein, aber es ist sehr lustig mit ihm. Wir haben ja das Ballett beider Häuser zusammengelegt und daher einen neuen Namen gesucht. Er meinte, "Leider können wir es nicht ‚Meyers Ballett‘" nennen - also haben wir es "Wiener Staatsballett" genannt.

Standard: Haben Sie einen Lieblingsplatz in Wien? Zentralfriedhof, Gruppe 32 A?

Meyer: Wieso?

Standard: Da sind sie alle begraben: Beethoven, Schubert, Brahms, Familie Strauß...

Meyer: Da war ich noch nie. Meine Lieblingsplätze sind private, etwa das Haus in der Praterstraße, in dem Arthur Schnitzler lebte oder das in Heiligenstadt, wo Beethoven sein Testament geschrieben hat. Am liebsten aber gehe ich spät abends durch die Domgasse. Da hatte Mozart seine Wohnung, die Gasse hat sich kaum verändert. Da kann ich mir vorstellen, dass Mozart das Gleiche gesehen hat wie ich, auf den selben Steinen gegangen ist.

Standard: Für die Religion ist die Musik sehr wichtig, Sie sind nicht gläubig. Weil Ihr Gott die Musik ist?

Meyer: Nein, ich habe keinen Gott. Musik ist ein Gefühl, das mich immer begleitet. Gott ist für die, die nicht akzeptieren, dass, wenn man stirbt, das Licht ausgeht. Für mich bleibt es dann finster. Keine angenehme Idee, aber es bedeutet auch, dass das Leben wichtig ist. Und ich glaube auch nicht, dass wir Menschen eine lange und tiefe Spur in der Welt hinterlassen, deswegen braucht man sich nicht so wichtig zu machen.

Standard: Aber Sie haben gerade von den Gegenbeispielen gesprochen, von Mozart, Beethoven...

Meyer: Sie reden von der Geschichte der letzten 200 Jahre - und wie alt ist die Erde?

Standard: Vielleicht wollen Sie deshalb künftig auch Barockopern spielen, damit diese Zeitspanne verlängert wird?

Meyer: (lacht) Nein, nicht deshalb. Barockopern sind eine Frage der Gourmandise, Programm für Feinschmecker. Als ich 1987 das erste Mal die Barockoper Atys von Lully gesehen habe, hat sich für mich eine Tür in eine neue Welt geöffnet. Ich liebe ja auch Barockarchitektur, Barockgärten - ich bin manchmal 20, 30 Mal im Jahr durch den Garten von Schloss Versailles spaziert - während meine Frau auf dem Grand Canal von Versailles gerudert ist.

Standard: Jetzt muss sie auf der Alten Donau rudern...

Meyer: Und sie ist so glücklich.

Standard: Weil Sie von Versailles reden: Ludwig der XIV. hat ihren elsässischen Heimatort Thann an einen Kardinal verkauft, Sie haben viel über den Sonnenkönig gelesen...

Meyer: Fast alles. Und Versailles finde ich so interessant, weil es eine völlig abgeschlossene Geschichte von hundert Jahren umfasst: Ludwig der XIV. bekam das alte Schloss von seinem Vater, dann begann er den Garten zu bauen, dann den Palast, und ab der Französischen Revolution ist alles geblieben wie es war.

Standard: Sie haben in Versailles also ein ähnliches Gefühl wie in der Wiener Domgasse?

Meyer: Ja, ganz ähnlich.

Standard: Ist das Leben Theater?

Meyer: Das Leben ist Komödie, aber nicht nur.

Standard: Worum geht's im Leben?

Meyer: (lacht) Ich weiß es auch heute noch nicht. Doch: Ich will den Leuten ein Geschenk machen. (Renate Graber, DER STANDARD; Print-Ausgabe, 24./25.12.2011)