Augusto Pinochet hasste Politiker. Linke ließ er verhaften, foltern und umbringen. Aber auch Gemäßigte hatten bei ihm nichts zu melden. Als der Christdemokraten-Chef Eduardo Frey nach dem Militärputsch am 11. September 1973 in der irrigen Annahme zu ihm kam, es werde ihm die Macht übertragen, soll ihm der General das Dienstauto weggenommen und ihn zu Fuß nach Hause geschickt haben. Pinochet wollte ganz ohne „Politiqueros", ohne „Politikaster" auskommen. Fortan sollten in Chile unpolitische Fachleute in den Ministerien sitzen.
Das traf sich gut mit den Ansichten einiger junger Wirtschaftswissenschafter, die beim Neoliberalen-Papst Milton Friedman in Chicago studiert hatten und nun als „Chicago Boys" an der katholischen Universität in Santiago lehrten. Sie wollten den Unternehmern und den internationalen Marktkräften möglichst große Freiheiten lassen und die Rolle des Staates in der Wirtschaft minimieren. Chile baute Zölle ab, privatisierte Unternehmen und schaffte staatliche Regulierungen ab. Es wurde zum Pionierland des Neoliberalismus, der trotz aller Krisen bis heute global die Wirtschafts- und Finanzwelt dominiert.
Weil sich die Menschen gegen die mit der Liberalisierung einhergehende Aufweichung von Arbeitnehmerrechten wie Kündigungsschutz und Gewerkschaftsfreiheit wehrten, musste dieses System in Chile vom Militär mit vorgehaltenen Gewehren durchgesetzt werden. Pablo Baraona, einer der „Chicago Boys" und Wirtschaftsminister von 1976 bis 1979, bekannte einmal offen, dass die „neue Demokratie autoritär" sein müsse: Denn „die Regeln, die für die Stabilität des Systems benötigt werden, dürfen nicht dem politischen Prozess unterliegen". Politische Instanzen sollten „nicht über technische Fragen entscheiden, sondern sich auf die Bewertung der Ergebnisse beschränken". Den Experten sollte es überlassen werden, „durch logisches Vorgehen zur Lösung von Problemen" zu kommen. (Quelle: Marcus Taylor „From Pinochet to the Third Way", Pluto Press 2006)
Pinochets Pensionssystem als Exportschlager
Ganz in diesem Sinn warf der junge Arbeitsminister José Piñera (ein Bruder des gegenwärtigen, rechten Präsidenten Chiles, Sebastian Piñera) das chilenische Pensionssystem um. Es war das älteste Lateinamerikas und basierte, wie jenes in Österreich und Deutschland, auf dem Umlagesystem; die Pensionen wurden also durch die Beiträge der aktiv Beschäftigten finanziert. José Piñera führte das weltweit erste privatisierte Pensionssystem mit individueller Kapitaldeckung ein. Jeder Arbeitnehmer errichtet bei einem privaten Pensionsfonds ein Konto und zahlt dort während seines Arbeitslebens monatlich mindestens zehn Prozent des Einkommens ein. Das angesparte Kapital wird von den Fondsmanagern z.B. in Aktien angelegt, was so nebenbei den Großteil der Bevölkerung von der Entwicklung der Börsenkurse abhängig macht. Von steigenden Kursen würden die Beitragszahler profitieren, wenn sie in den Ruhestand treten und eine Pension ausgezahlt bekommen. Da in der flexibilisierten Arbeitswelt des Neoliberalismus viele Menschen aber immer wieder Phasen der Arbeitslosigkeit erlebten, schafften es viele Beitragszahler nicht, ein ausreichend großes Kapital anzusparen. Die Hälfte der Bevölkerung, die keine angemeldete Arbeit hatte, blieb ganz aus dem System draußen. Und von den Beiträgen der Einzahlenden behielten die Fondsmanager „ein Viertel bis ein Drittel" als Bearbeitungsgebühren und Verwaltungskosten ein, wie es in einem Bericht der US-Organisation „Century Foundation" über „Chiles Privatisierungsfehlschläge" heißt. Als ich José Piñera in Wien einmal auf die Nachteile seines laut einer Reportage der „New York Times" in Chile sehr unpopulären Pensionssystems ansprach, sagte er wütend, dass er sich keinem Verhör stelle und auf Vorwürfe der „linken Kritiker" in der New York Times (!) nicht reagiere.
Doch bis sich die Nachteile des Systems herumsprachen, dauerte es einige Jahre, und in manchen Gegenden kam die Nachricht nie an. In der Slowakei, wo José Piñera persönlich die Regierung bei der Einführung des auch vom Internationalen Währungsfonds IWF favorisierten Systems der Privatpensionen beraten hatte, wurde er von Jan Oravec, dem Chef des Unternehmerverbandes, überschwänglich als „Vater der weltweit ersten erfolgreichen Pensionsreform" gelobt. Er habe sich „seinen Platz im Pantheon der ewig Lebenden gesichert", so gibt die Website JosePinera.com die Oravec-Epistel wider.
In Lateinamerika folgten etliche Staaten dem chilenischen Beispiel, doch einige, darunter Peru und Argentinien, haben die Pensionsreform inzwischen wieder rückgängig gemacht. Besonders die Argentinier, die vor exakt zehn Jahren eine horrible Staatspleite durchmachten (nur dass ihnen, im Gegensatz zum EU-Mitglied Griechenland heute damals niemand half) sind gegen den Neoliberalismus nun allergisch.
In Chile waren, nach einem Wirtschaftsabschwung wegen der Zerstörung der einheimischen Industrie durch die wegen eines niedrig gehaltenen Dollarkurses billigen Importe, mehr als ein Dutzend privater Banken schon 1982 gekracht. Pinochets Regierung kam, Neoliberalismus hin, Privatisierung her, zur Hilfe, verstaatlichte die Banken vorübergehend und rettete sie mit Milliardenbeträgen - weitaus höheren, als zur Milderung der enorm angestiegenen Arbeitslosigkeit zur Verfügung standen.
Im viel größeren Argentinien wiederholte sich diese Tragödie zwanzig Jahre später. In den 1990er-Jahren hatte der rechtsperonistische Präsident Carlos Menem voll auf neoliberales Privatisieren gesetzt. Die argentinische Währung wurde eins zu eins an den Dollar gekoppelt und war damit zunehmend überbewertet.
Sebastian Schoepp, Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung" schildert in seinem neuen, sehr zu empfehlenden Lateinamerikabuch „Das Ende der Einsamkeit" (Westendverlag) die Folgen, zum Beispiel der Eisenbahn-Privatisierung. Die neuen Eigentümer hätten „Schienen, Waggons und Loks" an afrikanische oder asiatische Länder verkauft, „oder gleich als Alteisen, anstatt in teure Modernisierungen zu investieren". Das Transportsystem sei zusammengebrochen, ganze Landstriche seien entvölkert worden.
„Nach und nach ergriff die Privatisierungswelle Schulen, Ölindustrie, Rentenversicherung und die Areolineas Argentinas, die (...) zu einer traurigen Regionalfluglinie verkamen", schreibt Schoepp. „Wer bei einem Staatsbetrieb arbeitete, galt als Verlierer."
2001, nur kurze Zeit nach Menems Abgang, brach das argentinische Kartenhaus zusammen, das Anleger aus aller Welt, auch aus Österreich, mit günstigen Krediten finanziert hatten. Mit billigen Dollars hatten seine neoliberalen Experten einen Import- und Konsumboom finanziert, aber die eigene (Export-)Industrie ruiniert. Dabei war Menem ein Liebling des IWF gewesen, dem damals der spätere deutsche Bundespräsident Horst Köhler vorsaß.
Lateinamerikanische Wende
Nach der Pleite hatte Argentinien 200 Milliarden Dollar Schulden, der Peso fiel auf ein Drittel des früheren Werts, die Schuldenrückzahlung drohte das Land zu ersticken. Es gab Massenarbeitslosigkeit und wachsende Armut. Nestor Kirchner, der 2003 neu ins Amt gekommene, linksperonistische Präsident, widerstand dann aber dem Druck der internationalen Finanzorganisationen, durch immer weiter gehende Sparprogramme das Geld für den Schuldendienst zusammenzukratzen. Kirchner stellte die privaten Gläubiger vor die Alternative, sich mit der Rückzahlung von einem Viertel der Schulden zu begnügen, oder gar nichts zu bekommen. Nach und nach gelang es, Argentiniens Wirtschaft wieder anzukurbeln, Paradeunternehmen wie die Aerolineas Argentinas wurden wieder nationalisiert, der Neoliberalismus zurückgedrängt. Auch unter der Nachfolgerin und Witwe des 2010 verstorbenen Nestor Kirchner, Cristina Fernandez, gelang es, die argentinische Wirtschaft am Laufen zu halten. Die jüngste Finanzkrise, die Europa so sehr gebeutelt hat, ging an diesem, wie in den meisten anderen lateinamerikanischen Ländern, nur geringen Schaden anrichtend vorbei.
Vor einigen Tagen hat Joseph Stiglitz, der Wirtschaftsnobelpreisträger, der sich selbst vom Weltbank-Ökonomen zum scharfen Kritiker des Neoliberalismus wandelte, Argentiniens Politik ausdrücklich gelobt. Wie auch Brasilien habe das Land die Wirtschaft und damit das Angebot an Arbeitsplätzen stimuliert, sagte Stiglitz in einem ausführlichen Interview mit der argentinischen Tageszeitung „Página 12" Die Regulierungen des Bankensektors seien besser als in Europa. Die Versuche der Europäer, ihre Krise nur durch Einsparungen zu bewältigen, werde „zur gleichen Erfahrung führen, wie sie Argentinien mit dem IWF hatte." Damals hätten die Ratschläge des Währungsfonds Argentinien direkt in die Katastrophe geführt.
Wie auch dem Lateinamerika-Buch von Sebastian Schoepp zu entnehmen ist, haben sich in den vergangenen Jahren immer mehr Regierungen von den Ideen der Neoliberalen abgewandt. Es wurde erkannt, dass es so etwas wie einen „neutralen Experten" in gesellschaftspolitischen Fragen nicht gibt. Entweder, er tendiert zu Entscheidungen, die eine unternehmerische Elite und die internationalen Finanzkonzerne begünstigen, oder zu solchen, die im Interesse der eigenen Bevölkerung sind. Das heißt nicht, dass die Regierenden in der Wirtschaftspolitik kaufmännische Grundsätze (oder gar die Grundrechnungsarten) außer Acht lassen dürfen. Mittlerweile ist aber nicht einmal mehr die Frage, ob die jeweilige Nationalbank wirklich „unabhängig" sein müsse, mehr ein Tabu.
Die Vertreter der internationalen Finanzinstitutionen reagieren auf solche Brüche des „Washington Consensus" der Neoliberalen mit lautstarken Kritik und drohendem Downgrading der Kreditwürdigkeit sowie dem Vorenthalten von frischem Geld.
Gegenwärtige gibt es ein derartiges Tauziehen zwischen dem IWF und Ungarn. Vorgeworfen wird der rechtsnationalen Regierung von Viktor Orban, dass sie die ungarische Nationalbank unter ihre Kontrolle bekommen will, was angesichts der sonstigen Allmachtphantasien des Regierungschefs in Budapest nicht von der Hand zu weisen ist. Doch ehe man Orban die Alleinschuld für den Streit gibt, sollte man auch zur Kenntnis nehmen, was sein Staatssekretär Mihály Varga voriges Jahr über den Ursprung des Konflikts mit dem IWF sagte: Der Währungsfonds und die EU hätten Ungarn und andere ehemalige Ostblockländer „regelrecht gezwungen, ein obligatorisches System der privaten Pensionsversicherung einzuführen", zitierte die Zeitung „Népszabadság" Varga. Dadurch sei in der staatlichen Pensionsversicherung ein Defizit von jährlich 1,5 Milliarden Euro entstanden. Der Wunsch der Regierung in Budapest, diesen Betrag nicht ins staatliche Budgetdefizit einzurechnen (das in Ungarn, wie in etlichen EU-Staaten über den „erlaubten" drei Prozent liegt) sei von IWF und EU zurückgewiesen worden.
Putschen in Europa die Bankkonzerne?
In die Krise geratene Staaten rutschen in ein Zwangssystem. Auf der einen Seite lockt der IWF mit frischen Krediten, an die aber harte Sparbedingungen geknüpft sind. Auf der anderen knallen die Rating-Agenturen mit der Peitsche des Downgradings. In einem Debattenbeitrag für die „Presse" bezeichnet die in Wien lebenden Politikwissenschafterin Barbara Serloth die Vorgangsweise von Finanzkonzernen und Rating-Agenturen als „kalten Putsch". Jene, die eigentlich die Krise ausgelöst hätten, drängten nun darauf, gewählte Politiker durch Experten ohne Legitimierung durch das Volk zu ersetzen, die zur Erreichung steigender Börsenkurse den Sozialabbau vorantreiben würden.
In der französischen Zeitung „Le Monde" wurde kürzlich die Frage aufgeworfen, was Mario Monti und Lukas Papademos (die „Experten" an der Regierungsspitze von Italien und Griechenland) sowie Mario Draghi (der neue Präsident der Europäischen Zentralbank) gemeinsam hätten. Antwort: Alle drei hatten in der Vergangenheit Beziehungen zur amerikanischen Investment-Bank Goldman Sachs. Von den beiden italienischen, in den USA ausgebildeten Experten habe Monti bei Goldman Sachs als Berater für „europäische Angelegenheiten" fungiert. Draghi war von 2002 bis 2005 Vizepräsident bei Goldman Sachs International in London. Laut „Le Monde" hatte dieser Zweig des Konzerns Griechenland zuvor geholfen, „seine Bilanzen zu schönen und Staatsschulden zu verschleiern". In Athen sei damals Papademos an den Schalthebeln der Notenbank gesessen.
„Le Monde" gab der am 16. November erschienen Geschichte über die „Söhne des Lichts", die einen neuen „Beziehungs-Kapitalismus" aufgebaut hätten, den harmlosen Titel „Goldman Sachs, la banque qui nous veut du bien" (etwa: „Die Bank, die es gut mit uns meint"). Französische Blogger waren da schon deftiger: „Le putsch de Goldman Sachs sur l'UE", schrieben sie.
Die griffige Formulierung von einem „Putsch" eines Bankkonzerns in Europa ist natürlich verlockend, aber trotzdem übertrieben. Man muss aufpassen, nicht in der Ecke der Verschwörungstheoretiker zu landen. Die Gefahr, dass ganze Staaten den Interessen der Finanzwelt ausgeliefert werden, besteht. Aber es gibt noch Gegenkräfte, wie auch „Le Monde" schlussfolgert: Medien, NGOs und institutionelle Anleger, die imstande seien, diesen „Netzwerk-Effekt" der Finanzexperten zu schwächen.