Wolfgang Michal: Vier Thesen zum Zustand der "Leitmedien".

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Geht es in der öffentlichen Auseinandersetzung nur mehr "darum, wer lauter und durchdringender kläfft und wer als Erster die Beute zu fassen bekommt"?

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1. Der pawlowsche Reflex scheint zunehmend zum Markenzeichen der Netzöffentlichkeit zu werden: Sobald die Herren der Leitmedien kräftig mit ihren Schreibarmen ausholen, rennt das Bloggerrudel den geworfenen Stöckchen laut kläffend hinterher und apportiert sie in freudigster Erregung. Es ist ein Verhalten, das nur noch in Nuancen zu unterscheiden ist von den hechelnden Kommentatoren, die sich in den Foren der Großmedien über "die da oben" austoben. Es ist das Verhalten von Wadenbeißern. Man orientiert sich an den Vorgaben des Chefs und versucht ihn moralisch zu übertreffen. Das heißt: Wo einst im Netz Gegenöffentlichkeit war, ist Verstärker-Öffentlichkeit entstanden. Das Netz ist kein Korrektiv der "Vierten Gewalt" mehr, sondern ihr verlängerter Arm. Es dient den Leitmedien als Publikumsjoker.

2. Der sichtbare Trend zum moralischen Rigorismus könnte aber auch ganz anders interpretiert werden: Nicht die Blogger und Twitterer haben sich den Leitmedien angepasst, sondern die Leitmedien den Bloggern und Twitterern. Herausgefordert durch deren kräftige (oft populistische) Sprache, greifen nun auch etablierte Medien immer häufiger zu drastischen Begriffen und Vergleichen, fordern eilends Rücktritte und rigorose Konsequenzen, und zelebrieren die unfreiwilligen Abgänge aus dem öffentlichen Leben als reinigende Buß- und Sühneopfer fürs Volk. Kommentare in Leitmedien sind deshalb kein abwägendes "Wischiwaschi" mehr, sondern drastische, dramatisierende, oft hemmungslos übertreibende Ermahnungen, Urteile und Orakel. In der verschärften Konkurrenz mit den freien Netzautoren, die sich ihre Leserschaft durch besondere Originalität, Streitlust oder Theatralik erschreiben, haben die etablierten Medien kräftig dazugelernt. Sie werfen nicht mehr nur ihre Stöckchen - sie rennen auch gleich laut kläffend hinterher. Anders als früher sind die Leitmedien nicht mehr die ängstlichen Kritiker der "Netz-Meute", sondern konkurrieren mit der "Meute" um die größtmögliche moralische Empörung. Es geht einfach darum, wer lauter und durchdringender kläfft und wer als Erster die Beute zu fassen bekommt.

Der Lärm, den die etablierten Medien dabei veranstalten, hat viele Blogger nachhaltig beeindruckt. Manche ziehen verdutzt den Schwanz ein, andere wechseln die Seiten oder versuchen lärmtechnisch mitzuhalten. Netzautoren und etablierte Medien belauern sich nicht mehr voller Misstrauen, sie feuern sich gegenseitig an und steigern auf diese Weise ihre populistische Macht. Heraus kommt ein Moralwächtertum, das oft weniger dem öffentlichen Leben nützt als der eigenen Sache.

3. In der Krise ist häufig zu hören, dass sich die entfesselten Finanzmärkte von der Realwirtschaft gänzlich abgekoppelt hätten. Könnte es nicht sein, dass auch die Medien in ihrem verschärften Konkurrenzkampf um Einfluss, Deutungshoheit und Kundschaft die Realwelt hinter sich gelassen haben, indem sie aus jedem Skandal-Mäuschen mittels geschickter "Verbriefung" (= Aufbauschen und Hochjubeln) einen Moral-Elefanten machen? Vor allem die privatwirtschaftlich organisierten Leitmedien vertreten heute in Benimmfragen ein moralisches Jakobinertum, das sich selbst die Katholische Kirche nicht mehr von den Kanzeln zu predigen traut.

4. Die gegenwärtig kritisierte Freunderl- und Amigowirtschaft ist weder neu noch eine niedersächsische Spezialität. Auch die Sitzplatzvergabe an Unternehmer (oder Journalisten) bei Flügen in ferne Länder ist eine typische Gunstbezeugung aller Kanzler und (Minister-)Präsidenten. Die politische Landschaftspflege mit Hilfe von Spenden und anderen Wohltätigkeiten ist trotz aufgedeckter Flickaffäre nie beendet worden. Durch mediale Empörung werden - wenn's hoch kommt - einige Figuren ersetzt, mehr ändert sich nicht.

Was sich jedoch ändert, sind Intensität und Umsatzmenge der Empörung - bei weitgehend fehlender Gewichtung der Fälle. Der Panzerdeal mit Saudi-Arabien ist im Zweifel weniger Empörung (und Schlagzeilen) wert als die nicht korrekt abgerechnete Bonusmeile, der günstige Privat-Kredit unter "Freunden" mehr als das von einer Lobby frech geschriebene Gesetz. Es kommt nur darauf an, wessen "Abschuss" gerade ins politische und geschäftliche Kalkül passt. Insofern haben die Empörungswellen etwas Beliebiges - und in ihrer Dimension Unberechenbares. Kaum ist diese Kampagne vorbei, folgt schon die nächste. Man könnte deshalb von einer Dauerempörung sprechen, die letztlich nicht den Verstand schärft, sondern den Mob erzeugt. (DER STANDARD-Printausgabe, 22.12.2011)