DER STANDARD-
Schwerpunktausgabe Patchwork

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Ausschlaggebend ist, ob der Respekt für die Vielfalt institutionell verankert wird und es einen gemeinsamen Willen gibt.

Wien – Sie tranken Rotwein, sie lachten, schauten sich in die Augen. Wer die fünf bosnischen Parteiführer vor einigen Wochen am Lugano-See zusammensitzen sah, konnte den Eindruck gewinnen, dass die Männer sich ganz gut verstehen. Sie sprechen die gleiche Sprache, haben die gleiche Staatsbürgerschaft und alle den Krieg hinter sich. Und dennoch haben sie eine unterschiedliche politische Identität und Nationalität. Und nicht nur das: Die einen wollen den Staat, die anderen nicht. Bosnien-Herzegowina ist Flickwerk geblieben, nur wenige Bosnier bekennen sich zur bosnischen Nation. Es fehlt der gemeinsame Wille, in dem Patchwork ein Muster zu sehen, mit dem sich alle identifizieren können.

Weshalb aber gibt es Länder mit unterschiedlichen Sprachen, Volksgruppen, historischen Perspektiven, die trotzdem ihre Bürger zufriedenstellen und zusammenhalten? Die Schweiz etwa, die wie die USA oder Kanada als Willensnation gilt und in der alle von der Kooperation profitieren.

Der Berliner Anthropologe Jan Köhler unterscheidet zwischen der "ideologischen Software" für die Nationsbildung – etwa Symbole – und der Staatenbildung. Um nationale Einheit zu konstruieren, werden historische Fakten selektiert. Eine stereotypisierte Nationalgeschichte und -kultur wird in Schulen, Massenmedien, bei Gedenkfeiern, durch Symbole und auf internationalem Parkett vermittelt. Zur Erinnerungskultur gehört oft ein Gründungsmythos. Ein beliebter Topos ist etwa der Befreiungskampf gegen einen Außenfeind. Das ist auch praktisch, um eigene Konflikte zuzudecken. Für eine erfolgreiche Staatenbildung reicht es aber nicht.

Dazu brauche man eine politische Struktur, die Alltagsprobleme und Konflikte der Gesellschaft abarbeiten kann, sagt Köhler. "Ohne Planungssicherheit kann man noch so viel nationales Brimborium haben, es ist dann ideologisch auch nicht mehr überzeugend."

Die Homogenität von Nationalstaaten ist ohnehin nur Imagination. Laut einer Studie aus dem Jahr 1972 waren von 132 Staaten nur zwölf ethnisch homogen. "Die deutsche Nation war ein absolutes Patchwork" , moniert Köhler. Lokale Identitäten wurden im 19. Jahrhundert durch politisch gesteuerte Prozesse zu nationalen umgewandelt. "Da wurde eine nationale Hochkultur konstruiert und darübergestülpt" , sagt der Wiener Politikwissenschafter Josef Melchior. "Der Staat war der Akteur, der die Nation gebildet hat." Und die Nationalität wurde über Staaten institutionalisiert.

Trotz zunehmend akzeptierter Heterogenität ist aber in Europa Vielsprachigkeit und Multiethnizität noch immer ein Potenzial für Desintegration. Entscheidend für das Funktionieren des Staates sei der institutionalisierte Respekt für die Vielfalt, etwa der Schutz von Gruppeninteressen, sagt Melchior. In Belgien, das zuletzt 540 Tage ohne Regierung war, ist die Schaffung der Balance zwischen Autonomie und Einheit ein dauernder "komplizierter Aushandlungsprozess" . Melchior: "Belgien hat das komplexeste Modell. Stressfaktoren stellen dann schnell die Beziehungen infrage."

Grundlage für den Zusammenhalt eines Patchwork-Staates ist die Schaffung einer öffentlichen Ordnung (wie sie etwa in Afghanistan fehlt). Einige afrikanische Staaten scheiterten nach der Dekolonialisierung genau daran. Indien, ein sehr heterogener Staat, ist das positive Gegenbeispiel dafür.

Ein Staat hält eher zusammen, wenn es eine Infrastruktur und ein Regelwerk für eine Volkswirtschaft gibt und die Verfassung klar ist. Sein Zusammenhalt ist hingegen gefährdet, wenn es Krieg (Irak, Afghanistan) und innere und äußere Akteure gibt, die ihre Macht ausdehnen wollen. Entscheidend sind auch das Umfeld und die Internationale Gemeinschaft. Im Fall der Schweiz waren die Großmächte etwa daran interessiert, dass es ein Land gibt, in dem man auf neutralem Boden verhandeln kann. Die Regionalmächte Türkei und Russland halten hingegen Nordzypern, Transnistrien, Südossetien und Abchasien in Abhängigkeit. Zypern, Moldau und Georgien bleiben zerrissen.

In Patchwork-Staaten ist die Integration von Minderheiten besonders schwierig, wenn diese sich mit einem Nachbarstaat, der eine Titularnation ist, identifizieren. Die Serben im Nordkosovo fühlen sich Serbien zugehörig. Aber auch die Kosovo-Albaner haben kein multiethnisches kosovarisches Nationalbewusstsein. Nationszugehörigkeit kommt vor Staatszugehörigkeit. Die Balkanologin Margita Preni-Dobruna spricht sogar von einer "schleichenden Vereinigung" zwischen dem Kosovo und Albanien. Ausschlaggebend ist die Populärkultur, das Internet, die neue Autobahn, das Fernsehen. Bei Big Brother in Albanien sind Albaner aus beiden Staaten vertreten. (Adelheid Wölfl/DER STANDARD, Printausgabe, 17.12.2011)