Der Kern guter Führung ist die Organisation von Kommunikationsprozessen, sagt Organisationsforscher Fritz B. Simon.

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STANDARD: Sie wurden von der Zeitschrift "Personalmagazin" zu einem der "40 führenden Köpfe im Personalwesen" gewählt. Was halten Sie von solchen "Auszeichnungen" ?

Simon: Wenn sie mir erwiesen werden, bin ich begeistert. Ansonsten bin ich diesen Dingen gegenüber skeptisch - so was lässt sich nicht objektivieren. Was soll's - das sind olympische Disziplinen. Ich persönlich würde mich nicht dazurechnen, freue mich aber trotzdem.

STANDARD: Ihre Arbeiten haben allesamt interessante Titel. Zum Beispiel "Gemeinsam sind wir blöd" oder "Die Kunst der Verkalkung" . Es scheint, als hätten Sie Mordsspaß bei der Arbeit ...

Simon: Da ist schon was dran. Ich bin in der sehr privilegierten Position, seit Jahren schon nichts tun zu müssen, woran ich keinen Spaß habe. Nennen Sie es Glück. Wenn ich selbst etwas damit zu tun habe, dann ist es: Ich weiß sehr gut Nein zu sagen. Für mich ist das Schreiben etwas Lustvolles, und ich bemühe mich, das, was ich schreibe, auch zu tun. Die Titel meiner Bücher erwecken Aufmerksamkeit, und das hat etwas mit meinem Thema zu tun: einem systemtheoretischen Blick auf Wirtschaft und Organisation, das heißt, es geht immer um Kommunikation bzw. ein kommunikationstheoretisches Erklärungsmodell.

STANDARD: Warum?

Simon: Wenn man davon ausgeht, dass soziale Systeme dadurch entstehen und erhalten werden, dass autonome, von innen gesteuerte Menschen miteinander kommunizieren, so stellt sich die Frage, was sie eigentlich in Beziehung zueinander bringt und sie verbindet. Was ist die Voraussetzung dafür? Die Antwort lautet: Es ist die geteilte Fokussierung der Aufmerksamkeit. Wenn man die Aufmerksamkeit des anderen nicht bekommt, kann man nicht mit ihm kommunizieren.

Meine Titel sind - wie die meisten anderen Buchtitel ja auch - schlicht aufmerksamkeitsheischend. Wobei die Titel nicht falsch sind. Es handelt sich lediglich um eine Perspektive, die ich hervorhebe. Wenn, beispielsweise, alle über die Chance der Veränderung von Organisationen reden, stelle ich die Frage, wie es ein Unternehmen schafft, sich nicht zu verändern und zu "verkalken" .

STANDARD: Sehen Sie Ihre Tätigkeit als Organisationsberater ähnlich kreativ wie jene als Autor?

Simon: Wissenschaft und Beratung haben gemein, dass sie nur dann sinnvoll sind, wenn sie kreativ sind. Ich weiß am Anfang eines Beratungsprozesses nicht, was herauskommt. Das ist es, was Spaß macht. Wenn man das vorher schon wüsste, wäre es öde. Das Problem bei vielen Beratungsprozessen ist, dass man festlegt, was am Ende herauskommen soll - und ich rede jetzt nicht von schwarzen Zahlen, das wäre ja ein inhaltlich offenes Ziel und deswegen sinnvoll. Oft bestehen die Aufträge darin, einen bestimmten Weg zu gehen. Aber der Auftrag an Beratung sollte sein, neue Wege zu finden.

STANDARD: Stichwort neue Wege. Wie kam es dazu, dass Sie von Ihrer Grundausbildung als Psychiater, Psychoanalytiker und u. a. Familientherapeut in die Organisationsberatung gekommen sind?

Simon: Von außen sieht das merkwürdig aus, weil diese Bereiche nach der üblichen Aufteilung der Disziplinen nichts miteinander zu tun haben. Am Beginn stand mein Interesse an Psychosen, den sogenannten Geisteskrankheiten. Wenn Sie erklären wollen wie Verrücktheit sich entwickelt, müssen Sie erklären können, wie sich Normalität entwickelt. Das ist nicht unähnlich der Beobachtung der Prozesse in Organisationen, die sich rationaler oder irrationaler entwickeln können. Einmal geht es um die Organisation und Desorganisation psychischer Prozesse, das andere Mal um die Organisation und Desorganisation von Kommunikationsprozessen. In beiden Fällen handelt es sich um die Prozessierung von Information und Sinn ...

Vor einigen Jahren war ich also in einer Arbeitsgruppe tätig, die sich mit Wahnsinn und den Bedingungen seines Entstehens und seiner Heilung in Familien beschäftigte. Damals haben wir sehr unorthodoxe Methoden entwickelt und publiziert. Daraufhin kamen Organisationsberater auf mich zu und haben mich letztendlich in dieses Feld gezerrt. Und da ich ein neugieriger Mensch bin, habe ich das mit mir machen lassen.

STANDARD: Wie ist Ihre Sichtweise des Themas Führung - so wie sie aktuell vielerorts verstanden wird?

Simon: Ich finde, dass viele Führungskräfte mit unterkomplexen Modellen an ihren Job gehen. Sie denken tatsächlich immer noch, dass jemand das tut, was sie ihm sagen. Führung ist für mich eine Aufgabe, die nicht unbedingt von einem Einzelnen geleistet werden muss, die aber überlebenswichtig für jedes Unternehmen ist. Sie besteht in der Organisation eines Kommunikationsprozesses, an dessen Ende Entscheidungen stehen, die intelligenter sind, als es die Entscheidungen jedes einzelnen an der Kommunikation Beteiligten wären.

Die Komplexität, mit der Führung heute konfrontiert ist, kann von heroischen Charismatikern nicht mehr bewältigt werden. Führungskräfte müssen daher die unterschiedlichen Potenziale und Kompetenzen vieler Individuen und Abteilungen zusammenführen und Kommunikationsforen schaffen, die ohne sie nicht zustande kämen. Es erstaunt mich, dass manche Führungskräfte immer noch an Anweisungen glauben. Das ist vergleichbar mit dem Versuch, unwillige Kinder mit Spinat füttern zu wollen.

STANDARD: Viele Menschen sind in ihren Organisationen unzufrieden. Sie sind wechselbereiter. 75 Prozent würden - laut einer aktuellen Umfrage - für bessere Rahmenbedingungen (nicht Geld) sofort das Unternehmen wechseln. Sie fühlen sich von nicht passenden Rahmenbedingungen eingeengt. Sollten sie es nicht sein, die eine Organisation bestimmen, und nicht umgekehrt?

Simon: Das stimmt aus meiner Sicht nicht ganz. Wir werden in Organisationen dafür bezahlt, dass wir Ziele akzeptieren, die wir uns nicht ausgesucht haben. Wir brauchen Geld für unseren Lebensunterhalt, und daher sind wir bereit, Aufgaben zu erfüllen, für die wir ursprünglich keine eigenen Motive haben. Viele nennen das dann Schmerzensgeld.

Organisationen beruhen aber auf dieser Logik. Das hat natürlich auch seine Limits. Wenn Sie sagen, dass 75 Prozent der Leute sofort woanders hingehen würden, dann hat das primär damit zu tun, dass sich diese Leute nicht gesehen fühlen und sich der Sinn ihres Handelns in der Organisation nicht befriedigend erschließt. Also, die Arbeitsbedingungen sind schon zentral, aber das heißt nicht, dass Organisationen basisdemokratisch zustande kommen sollten, müssten oder könnten.

STANDARD: Viele verlassen aber ihr Unternehmen trotz "Schmerzen" nicht. An diesem Punkt unterstellt man häufig Sicherheitsbedürfnisse. Wie kommt es, dass man sich als Fremdgesteuerter vermeintlich sicherer fühlt als als Selbstgesteuerter?

Simon: Man wird immer auch dafür bezahlt, dass man sich nicht vollkommen selbst steuert, sondern an den Entscheidungen der Hierarchie orientiert, obwohl man auch etwas anderes tun könnte. So sind die Spielregeln von Organisationen. Man fügt sich in Strukturen, man hat Vorgesetzte, und man wird mit Entscheidungen der oberen Etagen konfrontiert. Darin erweist sich gerade die Rationalität von Organisationen. Wie sonst wollen Sie denn 100.000 Mitarbeiter koordinieren?

Die Entscheidungen der Führung dienen dazu, die Unsicherheiten von Mitarbeitern zu beseitigen. In Unternehmen werden immer in der Gegenwart Entscheidungen getroffen, deren Richtigkeit oder Falschheit sich erst in der Zukunft zeigt. Man weiß nicht, welche Zukunft kommen wird, aber trotzdem muss in der Gegenwart gehandelt werden. Daher entscheidet sich die Führung des Unternehmens für eine hypothetische Zukunft und tut so, als ob sie sicher wäre: für das eine Investment und nicht für das andere, für die eine Strategie und damit gegen alle anderen. Das zu hinterfragen wäre manchmal schon sinnvoll.

Hier sind wir an dem Punkt, wo Führung die genannten Kommunikationsprozesse organisieren muss, um zu intelligenten Entscheidungen zu kommen. Aber in dem Moment, wo hunderte und tausende von Menschen bzw. ihr Handeln koordiniert werden müssen, bedarf es verbindlicher Entscheidungen, d. h. der Hierarchie und ihrer Akzeptanz durch die Mitarbeiter. Und das funktioniert ja auch weitgehend. Wer das als Mitarbeiter nicht aushält, kann eigentlich nicht in Organisationen arbeiten. Aber wer engagierte Mitarbeiter will, sollte dafür sorgen, dass sie nicht nur gehört und gesehen werden, sondern ihnen auch die Sinnhaftigkeit ihrer Tätigkeit erlebbar wird.

STANDARD: In der FAZ gab es einen Beitrag von Ihnen, in dem Sie schreiben: "Märkte sind dumm, ungerecht und moralfrei, denn sie verfolgen keine Ziele. Und das ist auch gut so. Denn nur aufgrund ihrer Blindheit gegenüber nichtwirtschaftlichen Bewertungen lassen sich wirtschaftliche Mechanismen für ganz widersprüchliche Werte und Zwecke nutzbar machen." Verschwörungsspezialisten würden jetzt vielleicht fragen: Was hat der denn vor?

Simon: Mein Plan ist, jeden zu ermutigen, Mechanismen der Wirtschaft für seine eigenen hehren Ziele zu nutzen. Wenn man, beispielsweise, ein Unternehmen gründet, muss das ja nicht profitorientiert sein. Ab einer gewissen Menge ist Geld ja nicht mehr motivierend. Herr Ackermann wird durch ein paar Millionen mehr oder weniger nicht mehr oder weniger motiviert sein. Mehr als eine Hose kann er auch nicht gleichzeitig tragen.

Ich glaube, dass jeder ein Anliegen hat, und das kann man in der Marktwirtschaft verfolgen. Der Witz an der Geschichte ist, dass ich jederzeit ein Unternehmen gründen kann, um die Welt zu verbessern. Aber ich muss mich - unabhängig davon, wozu ich es gründe - der Logik wirtschaftlicher Prozesse unterwerfen. Das meine ich mit moralfrei. Märkte sind Kommunikationssysteme, und ihre Dynamik folgt keiner höheren Rationalität oder irgendeiner Moral oder Ethik. Diese Logik führt auch nicht zum Erfolg des besseren Produkts, wie manche Marktfundamentalisten behaupten, sondern sie ist ganz inhaltsfrei und wertfrei allein von den Gesetzmäßigkeiten von Kommunikationssystemen bestimmt.

STANDARD: Eine Frage noch zum Stichwort Unternehmensgründung. Sie haben den Carl-Auer-Verlag mitbegründet. Warum gerade einen Verlag? Warum nicht zum Beispiel eine Bäckerei?

Simon: Das hat was mit meiner Lebensgeschichte zu tun. Als wir nach der Psychiatrie in die Organisationsentwicklung gezogen wurden, war meinen Kollegen und mir klar, dass wir auch praktische Expertise und Erfahrung als Unternehmer und Manager brauchen würden.

Bücher hatten wir alle schon publiziert. Da Kommunikationstheorie unser Metier ist, bot sich die Verlagsgründung an. Dort konnten wir dann auch unsere Ideen breiter streuen. Und mit Brötchen kenne ich mich einfach nicht so gut aus. (Heidi Aichinger, DER STANDARD, Printausgabe, 17./18.12.2011)