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Laut UNHCR sind seit Jahresbeginn 2011 bereits mehr als 1200 afrikanische Bootsflüchtlinge im Mittelmeer ertrunken.

Foto: EPA/REDUAN BUENA CALIDAD

Wir haben uns die Welt entdeckt. Jetzt müssen wir sie in Betracht ziehen. Ein Text zum Tag der Migranten.

"Wenn der Wind des Wandels weht,

bauen die einen Schutzmauern,

die anderen Windmühlen."

Aus China

Die Insel Gorée liegt in der Bucht von Dakar im Senegal. Auf Gorée erlebte ich zum ersten Mal Afrika. Der Begegnung lag ein Irrtum zugrunde. Ich war nach Dakar gekommen, um eine afrikanisierte Verfilmung des Besuchs der alten Dame von Dürrenmatt zu begleiten. Am Tag meiner Ankunft wurden die Aufnahmen abgebrochen, weil der Produktion das Geld ausgegangen war. Die Crew verlief sich in Windeseile, und da stand ich, allein auf diesem gewaltigen Kontinent. Ich setzte nach Gorée über und schaute zwei Wochen lang aufs Festland und dachte: Irgendwann werde ich Afrika richtig entdecken. Während dieser Wochen wurde ich beinahe erdrückt vom Gewicht der Geschichte, das auf der Insel lastet, der Geschichte der Sklaverei. Eine "maison des ésclaves" dokumentierte das unermessliche Grauen dieses üblen Wirtschaftszweiges, und auf einer Schautafel stand ungefähr Folgendes: Die Sklaverei konnte sich nur deshalb so lange halten, weil zwar den meisten die grauenhaften Zustände bekannt waren, sie aber trotzdem schwiegen, um weiterhin davon zu profitieren. Die simplen Worte berührten mich, sie trafen etwas, das ich damals noch nicht verstand.

Ich habe meine Kindheit und Jugend in der schönen, friedlichen und behüteten Umgebung des Zugerlandes verbracht, das in der Schweiz liegt, aber dem Salzkammergut ähnlich ist; unbelastet von den Fährnissen einer Welt, die widrig und feindselig sein kann; und auch naiv bezüglich der bestialischen Aspekte der Spezies Mensch. Trotzdem zog es mich hinaus in die Welt, die zuerst Zürich hieß, und dann weiter, immer weiter. Ich lebte an unterschiedlichsten Orten in Amerika, Asien, Afrika und natürlich Europa und kam vor über 20 Jahren nach Wien, wo ich seither meinen Hauptwohnsitz habe, unterbrochen weiterhin von vielen Reisen und langen Aufenthalten, vor allem in Marokko, wo ich und meine Familie seit zehn Jahren eine zweite Heimat gefunden haben. Ich bin mein Erwachsenenleben lang immer dorthin gegangen, wohin ich wollte, und bin geblieben, solange ich Lust hatte. Ich habe eine ungeheure Freiheit genossen und diese Freiheit nach Kräften ausgenützt.

Wo immer ich hinkam, traf ich auf Landsleute. Noch an den entferntesten und unscheinbarsten Orten gibt es sie, die Schweizerinnen und Schweizer, dass man vermuten muss, es existierten von diesem Menschenschlag mehr als die offiziellen sieben Millionen. Vielleicht ist dieser Drang in die Fremde ein Überbleibsel aus vergangenen Zeiten, als die Eidgenossenschaft in vielen Regionen eine bitterarme Gegend war, ohne Arbeit und Brot für junge Menschen, die deshalb nicht nur gezwungen wurden, sondern auch gezwungen waren, in die Fremde zu ziehen und sich fremden Regeln zu unterwerfen.

Das Bild der Schweiz im Ausland ist schon fast peinlich positiv. Kein Skandal und keine noch so verdammenswerte historische Tatsachen vermögen dieses Bild zu trüben. Was negativ sein könnte, wird weggeblendet. Das Positive überstrahlt alles. Mit dem Blick des Auslands betrachtet, ist die Schweiz ein liebenswerter, ein wenig sonderbarer und ziemlich belangloser Zeitgenosse, dem aus irgendwelchen Gründen die Reichen ihr Geld anvertrauen. Vor kurzem hat es mir ein alter Marokkaner so erklärt: "Sie sind Schweizer? Die Schweiz ist gut. Sie nimmt das Geld von allen. Die Schweiz hat keine Probleme." Dieses naive Bild ist in seiner Harmlosigkeit entzückend. Darüber hinaus ist es für Leute wie mich nützlich. Man ist als Schweizer überall wohlgelitten. Man kommt in den Genuss eines Vertrauens- und Liebenswürdigkeitsvorschusses, der schier unglaublich ist.

Vielleicht ist das das schönste und wertvollste Geschenk, das Heimat machen kann: den Weg in die Fremde zu öffnen und den Zugang zum Fremden zu erleichtern. Wenn Heimat als Bürgschaft gilt, dass einem die Fremde nicht feindselig, sondern freundlich begegnet, dann ist das eine großartige und von einem gnädigen Schicksal geschenkte Gabe. Es ist eine Gnade, die nicht aufgrund persönlicher Leistungen oder besonderer Verdienste verliehen wird, sondern allein dank der Zufälligkeiten des Ortes und der Zeit der Geburt.

So weckt dieses Geschenk auch Gefühle des Mitleidens, der Scham und Traurigkeit: Warum ist das, was ich erlebe, nicht von universaler Gültigkeit? Wieso gibt es kein selbstverständliches Grundrecht für alle Menschen, sich frei auf der Welt bewegen zu dürfen und das Glück dort zu suchen, wo man es zu finden glaubt? Weshalb werden Menschen gedemütigt, erniedrigt und gequält, eingesperrt oder bis aufs Blut ausgebeutet? Aus welchem Grund lässt man sie verhungern oder verdursten, ertrinken oder gar erschießen? Bloß weil sie versuchen, Grenzen zu überwinden, und davon träumen, in bessere Lebensumstände zu geraten? Nur weil sie gewillt sind, alles zu riskieren, um in den Genuss dieser besseren Lebensumstände auch wirklich zu gelangen?

Ich habe versucht, von verschiedenen internationalen Organisationen eine Berechnung dafür zu erhalten, was zum Beispiel der Schengenraum ausgibt, um den Personenverkehr jener, die nicht der EU angehören, an den Grenzen und im Innern zu verwalten, zu beschränken oder zu verhindern. Es war unmöglich, auch nur eine ungefähre Schätzung zu erhalten. Die Ökonomie der Abschottung liegt im Dunkeln. Die Wirtschaftlichkeit einer Politik, die Menschen in unterschiedliche Kategorien aufteilt und Erniedrigungen aufgrund der Herkunft und Hautfarbe nicht nur zulässt, sondern fördert, spielt in finsterer Nacht. Wenn man gewisse Eckdaten addiert, lässt sich vermuten, dass es sich um ungeheure Geldmengen handelt, um Geld, das sinnvoller und zukunftsorientierter verwendet werden könnte.

Zurzeit macht es nicht den Anschein, dass sich daran etwas ändern wird. Angst bestimmt die Gefühle, weil sich unsere Welt als episodenhafte Abfolge von Katastrophen darstellt. Bevölkerungsexplosion, Klimawandel, Finanz- und Schuldenkrise und der Aufruhr in der arabischen Welt sind nur ein paar der Schlagwörter, mit denen man uns Tag für Tag zu entmutigen versucht. Grenzen werden höher gezogen. Die Versuchung, sich einzuigeln, ist enorm, und der Rückfall in eine Nationalstaatlichkeit, die man noch vor kurzem zu überwinden können glaubte, scheint unaufhaltsam. "Österreich zuerst", 1993 von der Freiheitlichen Partei initiiert, ist Mainstream geworden und gilt in seinen Abwandlungen auch als "Schweiz zuerst", "Deutschland zuerst" und so weiter. Die dem Menschen inhärente Scheu vor dem Fremden will nicht gemildert, sondern bis hin zu Hass und blankem Rassismus aufgeheizt werden. Wer sich dagegenstellt, gilt als naiv, wer sich für eine Globalisierung nicht nur der Waren und des Geldes, sondern der menschlichen Bewegungsfreiheit einsetzt, ist ein Utopist, ein Träumer.

Aber sind die wirklichen Träumer nicht jene, die glauben, es könne so, wie es ist, immer weitergehen? Abschottung ist kein Rezept für die Zukunft, denn wer sich zu sehr abkapselt, wacht eines Tages im Gefängnis auf. Wir haben uns die Welt entdeckt. Jetzt müssen wir sie in Betracht ziehen. Wir haben uns ihr zu stellen. Je mehr Freiheit wir zulassen, umso mehr Zivilisation ernten wir. Freiheit heißt in einer zivilisierten Gesellschaft nicht Regellosigkeit, aber die Regeln sind nicht unter der Prämisse zu entwickeln, dass der Mensch des Menschen Feind sei, sondern in der Gewissheit, dass die Menschenwürde ein universales Gut ist, das unabhängig von Ort und Zeit der Geburt zu respektieren ist. Die Zukunft hat begonnen. Es ist an der Zeit, dass wir uns über das Krisengeschrei erheben und soziale Visionen entwickeln, die helfen, Grenzen abzubauen und auf eine Kultur des Weltbürgertums hinzuwirken. Die Freiheiten, wie ich sie genieße, müssen für alle gelten, und vor allem auch für jene, die bitterer Not entgehen und bessere Lebensbedingungen erwerben wollen.

Tote im Kanal von Sizilien. Tote in der Meerenge von Gibraltar und bei den Kanaren. Tote in der Ägais. Tote im Mittelmeer und im Atlantik. Laut UNHCR sind seit Jahresbeginn bereits mehr als 1200 afrikanische Bootsflüchtlinge im Mittelmeer ertrunken. Anstatt Fluchtwege zu öffnen, werden Schutzsuchende auf hoher See ihrem Schicksal überlassen und in den Tod geschickt. Wir nehmen nicht nur das Sterben in Kauf, sondern akzeptieren, dass sich dieses Schlachtfeld bis tief in den Kontinent hinein erstreckt mittels Demütigungen und Misshandlungen durch Behörden und Bürger, denen Rassismus zur selbstverständlichen Begleitmusik ihres Wohlstandes geworden ist. Aber können wir verdrängen, dass diese Zustände nur deshalb aufrechterhalten bleiben, weil wir zwar davon wissen, aber trotzdem schweigen, um in irgendeiner Form davon zu profitieren? (Christoph Braendle, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 17./18. Dezember 2011)