Die totale Erinnerung dank Timeline?

Foto: Imdb

Wer schon einmal in den Genuss gekommen ist, peinliche Karaoke-Videos von sich auf Facebook gefunden zu haben, kennt auch die Erleichterung, wenn sie wieder unter den Wall-Updates begraben wurden. Am Donnerstag startete Facebook das neue Profildesign, das "die ganze Geschichte eines Lebens auf einer Seite erzählt". Alle Fotos, Videos, Kommentare, Links und geteilte Inhalte sind mit einem einzigen Klick aufrufbar. Ob wann will, oder nicht. Für viele der 800 Millionen Facebook-Mitglieder mag dies der erste Moment sein, in dem sie realisieren, wie viele digitale Brotkrumen sie auf dem sozialen Netzwerk - und im Netz generell - streuen. 

Vergangenes ablegen

Ob man das jetzt positiv sieht oder nicht, das neue Format bringt jedenfalls alte Erinnerungen zurück und macht es gleichzeitig schwieriger, vergangene Identitäten abzulegen. Viele Leute, die mit Facebook aufgewachsen sind, werden unter Umständen damit zu kämpfen haben - beim Wechsel von Schule zu Universität und danach in die Arbeitswelt. Natürlich könnte man sagen "Jeder ist selbst verantwortlich, welche Inhalte er mit der social World zu teilen", aber nicht immer hat man selbst etwas veröffentlicht. Und manchmal kommt die Scham eben erst nach einigen Jahren. Mit der Timeline werden jedenfalls "alle Mausklicks, die wir im Web hinterlassen, gespeichert", sagt Jonathan Zittrain, Jus-Professor an der Harvard Universität, gegenüber der New York Times. Er untersucht, wie das Internet die Gesellschaft beeinflusst.

Sammelalbum

Während das alte Facebook-Profil die aktuellsten Aktivitäten der UserInnen anzeigt, kreiert die Timeline eine Sammelalbum-artige Montage. Alles auf einen Blick, für jeden Monat und jedes Jahr, seit der Registrierung bei Facebook. Als Mark Zuckerberg die Timeline im September vorstellte, beschrieb er sie als umfassenderes Portrait und mehr als nur die Anzeige von Updates und eines Profilbilds. Seit Donnerstag können NutzerInnen die Timeline unter facebook.com/about/timeline bereits aktivieren und ausprobieren.

Alte Fotos und alte Flammen

Das Erlebnis durch die soziale Vergangenheit auf Facebook inklusive aller Fotos und vergangener Flammen zu browsen, kann die einen oder anderen emotional aufwühlen. Nicht unähnlich dem Öffnen eines verstaubten Jahrbuchs oder einer Schuhschachtel mit alten Bildern und Briefen. Mit einem weiteren Unterschied: dass sie für alle "Freunde" zugänglich sind. Es mag beunruhigend erscheinen die Vergangenheit genauso klar dargestellt zu bekommen wie die Gegenwart. 

Reaktionen

Zu den Reaktionen, die einige hundert Facebook-NutzerInnen auf dem Firmenblogeintrag zur Timeline hinterlassen haben, sagte ein Nutzer beispielsweise, dass es "eine Einladung für Stalker" sei. Ein anderer schrieb: "Wenn Facebook nicht alle paar Monate Veränderungen bringen würde, würden wir immer noch MySpace nutzen". Vom bisher besten Facebook-Update sprechen die anderen: "Jetzt ist das Facebook-Profil fast wie eine persönliche Website." 

No U-Turn

Analysten bezeichnen die Timeline als eine "evolutionäre Veränderung". Man müsse Facebook zugute halten, dass die Seite ihren Mitgliedern erlaubt, ihre Lebensgeschichte zu bearbeiten und zu entscheiden, was auf der Timeline auftaucht. Einmal aktiviert, ist eine Rückkehr aber nicht mehr möglich. Am 22. Dezember werden alle Profile auf das neue Layout umgeschaltet. 

Beziehung komplizierter

Nicole B. Ellison, Professorin an der Michigan State Universität, erforscht, wie Menschen online interagieren. Sie sagt, dass der durchschnittliche Facebook-Nutzer nicht verstehen werde, wie man die Seiten bearbeitet und sich damit auch nicht auseinandersetzen möchte. "Für jemanden, der seit fünf Jahren Mitglied ist, ist das ein großes Unterfangen", sagt Ellison. Ihr zufolge könnte das neue Design die Beziehung der NutzerInnen zu Facebook komplizierter gestalten.

Neue Timeline - neues Leben?

Einer der Timeline-Designer ist Nicholas Felton. Er merkte eines Tages, dass er nicht so viele Konzerte besuchte wie er hätte wollen, ähnlich ging es ihm mit dem Lesen von Büchern. "So war es mir möglich, mein Verhalten entsprechend zu ändern", sagt er. Nach und nach, ist Felton überzeugt, werden Facebook-UserInnen die Timeline zu schätzen lernen. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der immer größer werdenden Datenmenge, die man produziert. (ez, derStandard.at, 16.12.2011)