Gentlemen, wir leben am Abgrund von Thomas Pletzinger, Verlag Kiepenheuer & Witsch - 256 Seiten, 15 Euro. (Erhältich ab 5. Jänner 2012)

Foto: Kiepenheuer & Witsch

Bild nicht mehr verfügbar.

Heiko Schaffartzik (das schlampige Genie), Sven Schultze (die Kampfmaschine) und Julius Jenkins (der Top-Scorer)

Foto: Reuters/Dalder

Auch die Welt des Basketballs kann Poesie verströmen. Vor allem wenn man ihr genau auf den Grund geht. 20 Männer gehen ein Jahr gemeinsam auf Reise, feiern, schimpfen und weinen miteinander: Die Dynamik in einem Profiteam. Es geht um Gewinnen oder Verlieren. Ein Druck, der an die Substanz geht. Der Romanautor Thomas Pletzinger hat die Basketballmannschaft von Alba Berlin eine Saison lang begleitet und mit "Gentlemen, wir leben am Abgrund" ein Stück Basketballliteratur geschaffen, wie es bis dato am deutschen Buchmarkt nicht existiert. Ein Muss für Sportinteressierte, nicht nur für Die-Hard-Basketball-Fans.

"Feindliche Brüder": Sport und Literatur

Marcel Reich-Ranicki hat einmal gesagt, "Sport und Literatur könnten sich nicht aufrichtig lieben, sie seien feindliche Brüder". Was natürlich Nonsens ist. Wer sich einmal die Schilderungen von David Foster Wallace in seinem Essay "Roger Federer as Religious Experience" und "String Theory", ein Porträt des ehemaligen Tennisprofis Michael Joyce, zu Gemüte geführt hat, weiß um das Potenzial literarischer Strahlkraft des Spitzensports Bescheid. Alba, das Basketball-Powerhouse in Deutschland, beheimatet in einer Stadt, wo alles möglich ist: Es hätte keine bessere Kulisse geben können. In der Kunsthautpstadt Berlin kommen gerne einmal 14.000 Zuschauer zu einem Basketballmatch, das gibt es in Europa kein zweites Mal.

Pletzingers Erfahrungen sind schön und hässlich zugleich, er erzählt von der Monotonie des Trainings, dem Kampf zwischen Trainern und Spielern (Lehrern und Schülern), den Fragen, die ganz konkret am Feld, ganz physisch beantwortet werden. Im Fight um den Rebound, im Ringen um Akzeptanz, auf der Suche nach dem perfekten Wurf oder dem nächsten Gehaltszettel. Und man erfährt die interessanten Dinge erst dann, wenn man den Leuten über lange Zeit recht nahe kommt. Für Kenner des deutschen Basketballs natürlich ein doppelter Genuss.

"Too many obstacles"

Alba Berlin wurde in einem Saisonspiel mit demütigenden 50 Punkten Differenz von Bamberg abgeschossen, war auf einem absurden Auswärtstrip wegen Schneestürmen 40 Stunden von Neapel bis nach Berlin unterwegs, mit Rotkreuzdecken, Trinkspielen und Fastschlägereien. Coaches wurden ausgewechselt, Spieler gefeuert und am Ende fehlten nur 89 Sekunden zum Gewinn der Meisterschaft. "Life will throw everything but the kitchen sink in your path, and then it will throw the kitchen sink", sagt Andre Agassi in seiner Autobiografie "Open": Ein Satz den Albas Ex-Coach Luka Pavicevic, als Basketball-Gelehrter durchaus als Romanfigur geeignet, gerne zitierte. "Too many obstacles". Die Mannschaft war weg vom Fenster, hat sich selbst aus dem Dreck gezogen und ist am Ende grandios gescheitert. Im alles entscheidenen Spiel 5 der Finalserie gegen Nemesis Bamberg. Ein Lebenskreis schließt sich.

Hart fokussiertes Umfeld

Als Antithese zum Sportjournalisten ist Pletzinger bemüht, die kleinen und großen Risse in der Fassade des Profisports aufzuzeigen und er hätte kein besseres Drehbuch schreiben können als die Saison Alba Berlins 2010/2011, ein Jahr mit Höhen und Tiefen. Beim Roman kennt der Autor das Ende, hier nicht. So gesehen wird hier auch an die gute amerikanische Tradition des ethnologischen Zuganges zum Sport erinnert, es ist der persönliche Zugang zum Geschehen ohne übertriebene Hofberichterstattung. Koryphäen wie Jack McCallums (":07 Seconds or Less: My Season on the Bench with the Runnin' and Gunnin' Phoenix Suns", "Unfinished Business") oder der mittlerweile leider verstorbene David Halberstam ("Playing for Keeps. Michael Jordan and the World He Made") wurden über die U.S.-Grenzen hinaus bekannt mit ihren Inside-Stories über das Geschäft des Profibasketballs.

Der Autor lebt für eine kurze Zeit seinen gescheiterten Traum vom Basketballprofi-Leben, er ist subjektiv und emotional, aber genau das macht das Buch so delikat. Er begibt sich in ein hart fokussiertes Umfeld, die Spieler beschäftigen sich mit Taktik, ihren Körpern, ihren Ritualen. Amerikaner, Serben, Deutsche, sie ringen darum, dass ihre gemeinsame Reise ein gutes Ende nimmt. "Gentlemen, wir leben am Abgrund", sagte der Ex-Coach zu seinen Spielern in der Kabine und plötzlich waren alle fokussiert. (Florian Vetter, derStandard.at)