Für Caritas-Präsident Franz Küberl ist die bedarfsorientierte Mindestsicherung mehr ein "Abstellgleis" als ein "Sprungbrett". 

Foto: Der Standard/Urban

"Das Dilemma ist, dass jene, die in unserem Land politisch und wirtschaftlich verantwortlich sind, praktisch keine Armen kennen."

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"Also ich hätte überhaupt kein Problem damit, wenn die Caritas etwas kleiner sein könnte und weniger zu tun hätte."

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Standard: Zu Beginn eine Testfrage: Könnten Sie bitte die derzeit heiß diskutierte Schuldenbremse definieren?

Küberl: Gute Frage. Prinzipiell ist das eine Kategorie, in der ich nicht denke. Letztlich heißt es, abrupt vom Gas auf die Bremse zu steigen, ohne die Kupplung zu betätigen.

Standard: Ein Auto "würgt" man so ab. Haben Sie das Gefühl, dass die Leute der laufenden Diskussion über die Finanzkrise überhaupt noch folgen können?

Küberl: Sicher nicht. Die Debatte geht an den Menschen vorbei. Vielmehr ist es doch so, dass die Menschen immer mehr von Zukunftsängsten geplagt werden. Viele dieser geplanten politischen Maßnahmen sind für die Leute unendlich schwer durchschaubar. Wie soll jemand - etwa am Beispiel Griechenland - verstehen, was "Haftung" heißt, was real zu zahlen ist, welche Banken dabei sind. Hier taucht ein unglaubliches Verständigungsproblem auf. Und die Menschen ziehen sich dadurch auf sich selber zurück - und es taucht die Frage auf: Hab ich selber noch eine Zukunft?

Standard: Ist die Angst berechtigt?

Küberl: Man muss unterscheiden. Die Debatte um die Schuldenbremse ist eine politische Angelegenheit. Da kann man hoffen, dass sich die Regierung auf ein kluges Sparprogramm einigt. Dem gegenüber stehen aber die Ängste der Menschen in Zusammenhang mit der Währungs- und Wirtschaftskrise. Viktor Frankl hat schon vor 25 Jahren gesagt: Ein Prozent mehr Arbeitslosigkeit bedeutet drei Prozent mehr Selbstmorde, viereinhalb Prozent mehr Kriminalität und sechs Prozent mehr psychiatrische Auffälligkeiten. Das ist die Schärfe, die tatsächlich da ist.

Standard: Übersieht die Politik den Menschen hinter der Krise?

Küberl: Die Menschen, die die Krise trifft, werden leider meist gar nicht wahrgenommen. Viele Politiker hüten sich auch davor, sich allzu stark damit zu beschäftigen. Aber: Jeder Mensch ist mehr wert als jeder Klumpen Gold.

Standard: Spürt die Caritas, dass in Krisenzeiten ihr Klientel anwächst?

Küberl: Wir sind überall randvoll. Und wir können über Arbeit nicht klagen. Also ich hätte überhaupt kein Problem damit, wenn die Caritas etwas kleiner sein könnte und weniger zu tun hätte. Aber wir sind nun einmal da, Menschen in schwierigen Situationen zur Seite zu stehen.

Standard: Rund eine Million Österreicher gelten bereits als armutsgefährdet. Kann man schon sagen, wie weit die Zahl ansteigt?

Küberl: Da gibt es keine Prognosen. Wir haben nur einen Indikator: den Anstieg der Arbeitslosigkeit. Länger andauernde Arbeitslosigkeit stellt die entscheidende Armutsfalle dar. Die schlechte Nachricht vor Weihnachten: Das Milieu, aus dem Armut entstehen kann, ist sicher im Anwachsen.

Standard: Ist die Armut im Mittelstand angekommen?

Küberl: Da bin ich vorsichtig. Ich bin weder Soziologe noch Statistiker. Wir spüren nur, dass auch Leute in eine sehr schwierige Lebenssituation kommen können, die gar nie daran gedacht haben, dass es einmal schlecht werden könnte. Diese Entwicklung riecht schon ein wenig nach Mittelstand.

Standard: Steuert die Politik entsprechend gegen?

Küberl: Das Dilemma ist, dass jene, die in unserem Land politisch und wirtschaftlich verantwortlich sind, praktisch keine Armen kennen. Und wenn man keinen kennt, dem es nicht gut geht, kapiert man nicht, was es heißt, in einer schwierigen Lebenssituation zu sein. Wir haben in Österreich eine Klassengesellschaft: eine Oberschicht, einen breiten Mittelbau - aber auch eine Unterschicht. Darüber redet man ungern. Wir sollten schleunigst schauen, dass wir keine Unterschicht haben.

Standard: Die Mindestsicherung wird von der Regierung da gern als Erfolg verkauft. Für einen Einpersonenhaushalt beträgt die Armutsgefährdungsschwelle 994 Euro im Monat. Die bedarfsorientierte Mindestsicherung für eine alleinstehende Person lag 2011 bei rund 753 Euro. Also mit rund 240 Euro doch deutlich unter dieser Schwelle. Wie geht sich das aus?

Küberl: Verdammt schlecht geht sich das für Arme aus. Dazu kommt, dass wir quer durch Österreich unterschiedliche bürokratische Hürden haben. Ich weiß zum Beispiel von einem Fall in einer österreichischen Gemeinde, in der eine Frau eigentlich die Mindestsicherung brauchen würde. Der Ehemann hat sich verabschiedet, die Gemeinde wartet aber jetzt zu, bis der Mann eine neue Adresse hat, und meldet ihn am Familienwohnsitz nicht ab. Solange bekommt die alleinerziehende Mutter keine Mindestsicherung. Und es gibt unzählige solcher Hürden.

Standard: Braucht es eine Reform der Mindestsicherung?

Küberl: Eines vorweg: Die Minister Bartenstein und Buchinger haben eine sehr gescheite Mindestsicherung ausgearbeitet. Aber für eine Reform bin ich immer. Seit 2006 ist das Gespür für die Armen nämlich deutlich schwächer geworden. Es geht um eine Frage: Ist die Mindestsicherung dort, wo es möglich ist, ein Sprungbrett zurück in die Erwerbstätigkeit? Und das ist sie im Moment weitestgehend nicht - oft ist sie ein Abstellgleis.

Standard: Wären Sie für eine Vermögenssteuer?

Küberl: Das Wifo hat schon 2006 gesagt, dass die Balance der Besteuerung von Arbeits- und Vermögenserträgen schief geworden ist. Es ist Aufgabe der Politik, mit einer sozialen Wasserwaage tätig zu sein. Eine Möglichkeit wäre eine Steuer auf Vermögenserträge, wie das Wifo vorgeschlagen hat. (Markus Rohrhofer, DER STANDARD; Printausgabe, 14.12.2011)