Einmaliges Gastspiel im Festspielhaus St. Pölten: "Moving Target", choreografiert von Frédéric Flamand, dem Leiter des Ballet National de Marseille.

Foto: Pino Pipitone

Wien / St. Pölten - Ihre Arbeitsweisen könnten unterschiedlicher nicht sein. Aber eines brennt beiden Künstlern gleichermaßen unter den Nägeln: "dass es mit uns so nicht weitergehen kann". Frédéric Flamand, 1946 in Brüssel geboren und heute Leiter des Ballet National de Marseille, gründete bereits seine erste Company, als Laurent Chétouane 1973 im französischen Soyaux geboren wurde. Und der Jüngere, der von der Theaterregie zum Tanzschaffen konvertiert ist, wird seit einigen Jahren zu den großen Entdeckungen der zeitgenössischen Choreografie gezählt.

Der Belgier kooperierte im Lauf seiner Karriere mit Größen wie Robert Wilson, Zaha Hadid und Jean Nouvel. Am Freitag gastierte er mit seinem Stück Moving Target im Festspielhaus St. Pölten, während Chétouane im Tanzquartier Wien eine Hommage an das Zaudern uraufgeführt hat. Zurzeit arbeitet Chétouane außerdem mit seinem Wiener Kollegen Philipp Gehmacher an einer Performance zu Kleists Novelle Das Erdbeben in Chili. Premiere ist Ende Jänner in Köln. Und bei der Ruhrtriennale 2012 wird er sein Projekt Sacré Sacre du Printemps vorstellen.

In Moving Target führt Frédéric Flamand drastisch vor Augen, wie uns eingeredet wird, dass wir nicht sexy, leistungsfähig, cool und glücklich genug sind. Diesem Sperrfeuer aus propagandistischen Depressiva folgt prompt der Trost: Nimm Confiderm, Libidopluren oder Controlin - so lauten die Namen der fiktiven Pharmaka, die während des Stücks in Video-Werbeinserts angepriesen werden -, und alles wird gut. Sein multimediales Stück über die Ausbeutung des menschlichen Körpers durch die Pharmaindustrie baut der Choreograf auf Tagebuchnotizen der Gründerfigur des modernen Balletts Vaslav Nijinsky. Eine kleine "Zielgruppe" aus zwölf ausgezeichneten jungen Tänzerinnen und Tänzern zeigt, wie peinlich es ist, durch Serviceangebote zu manövrieren, die vor allem deren Produzenten guttun.

Die Tänzer agieren als "Crashtest-Dummies", werden angepasst und dann planvoll beschädigt. Sie sitzen in der Falle wie einst Nijinsky. Nach einem Nervenzusammenbruch 1919 verbrachte der Star der legendären Ballets Russes rund 30 Jahre in diversen Nervenheilanstalten. Gefangen in einer Psychose schrieb er ein Tagebuch, dessen luzide, aber auch größenwahnsinnige Eintragungen Flamand in Textinserts Revue passieren lässt.

Fazit: Die Zielgruppe wird neurotisch gemacht, damit sie in der Folge leichter ausgeplündert werden kann. Dagegen weiß Laurent Chétouane ein Rezept: Lasst euch nicht hetzen, setzt euch nicht selbst unter Druck. Seine Hommage an das Zaudern, ein Zelebrieren des Zögerns und Abstandnehmens, ist eine Herausforderung: Hier wird das Publikum direkt in die Verlangsamung mitgenommen und erfährt, wie sich das anfühlen kann. So ganz ohne schlechtes Gewissen.

Wunderbar leicht tanzen Rémy Héritier und Joris Camelin auf der bis auf zwei Sessel und ein Piano leeren Bühne. Anfangs ein wenig ironisch, als ob sie alte Verhaltensmuster ablegen wollten, dann verspielt - ganz im Sinn des berühmten holländischen Kulturhistorikers Johan Huizinga, der 1938 in seinem Buch Homo Ludens zur Einsicht kam: "Der Tanz ist eine besondere und besonders vollkommene Form des Spielens."

Spielen und nicht gespielt werden, darauf setzt Chétouane die beiden Tänzer und den Pianisten Jan Burkhardt an, der zuerst einzelne Tastenschläge miteinander kombiniert und gegen Ende des Stücks zu einer Melodie findet. Héritier und Camelin durchbrechen ihr Schweigen mit surreal anmutenden Geschichten, darunter die eines Apfels, der in einem Apfelkuchen landet.

Hommage an das Zaudern ist ein Stück gegen die nervöse Verkrampfung. Und ein Ausloten von Möglichkeiten, es anders anzugehen - damit wir kein Confiderm schlucken müssen, um durch den Tag zu kommen. (Helmut Ploebst, DER STANDARD/Printausgabe 12. Dezember 2011)