Der barocke Garten von Jorge Macchi vor der ehemaligen Kunstseidenfabrik T.A.S.E. symbolisiert ein System, das sogar die Natur zu zähmen vermag: ein überholtes Modell.

Foto: Blaise Adilon

"A Terrible Beauty Is Born" übertitelt sie das trübsinnige Schauspiel, das über die Illustration ihres Leitthemas nicht weit hinauskommt.

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Die Vorstellung beginnt in wenigen Minuten, heißt es: „Genau dann, wenn der Gong ertönt." Bei einer Theaterminiatur von flüchtigen 67 Sekunden, wie es Samuel Becketts "Atem" von 1969 ist (in der Minimalvariante sogar nur 35 Sekunden lang), ein nicht gerade unwesentlicher Hinweis.

Der durch dies nützliche Service gewonnene Zeitpolster wird von Besuchern der Lyon-Biennale gern zum Kramen in der Handtasche oder Blättern im Führer genutzt. Sie könnten aber auch einfach auf das mit Gaze verhangene Bühnendunkel blicken. Eine Düsternis, in der man nach und nach einer Landschaft und eines geheimnisvollen Glitzerns gewahr wird. Umso heftiger allerdings der Schock, wenn der schöne Schimmer sich später als Lichtreflexe auf einem Plastikmüllberg herausstellt. Babyschreie. Atmen. Und das Dunkel kehrt zurück. 

"A Terrible Beauty Is Born" heißt die von der Argentinierin Victoria Noorthoorn konzipierte Biennale. Ihr Titel ist für all jene, die im Zwielicht auch eine betörende Schönheit in der kolossalen Hässlichkeit entdeckten, an dieser Stelle greifbar geworden. Wer sich jedoch allzu sehr der theatralen Ordnung der Großausstellung ergibt, verpasst solch' zarte, nur im Innehalten bemerkbare Zwischentöne. Denn der vier Standorte durchlaufende Parcours folgt einer strengen Dramaturgie, er lockt von einer raumgreifenden, unmittelbar Sinne wie Gefühle ansprechenden Arbeit zur anderen. 

"Furchtbare Schönheit entstand" lautet die im Titel zitierte Zeile aus dem Gedicht "Easter"; William Butler Yeats widmete es den Opfern des irischen Osteraufstandes 1916: ein Rückschlag, der letztendlich doch zum Wandel - zur Unabhängigkeit - führte. Worauf Noorthoorn mit ihrem Bild der schrecklichen Schönheit abzielt, zeigt sich allerdings in der vorhergehenden Zeile: "Alles änderte sich vollständig." 

78 Künstler - viele davon aus Lateinamerika - illustrieren eine Welt, die sich wandeln müsste, sich aber in der Gegenwart mit all ihren Widersprüchlichkeiten und Absurditäten festkrallt: So wie der Held Laura Limas, der mit seiner Kraft die Säulen zum Einstürzen bringen will, aber wie der zwischen 10.50 Uhr und 10.51 Uhr gefangene Zeiger (Jorge Macchi) zum Sisyphos verdammt ist.

Noorthoorns Stück beginnt in der Sucrière, einer ehemaligen Zuckerfabrik in einem aufgewerteten und szenig gewordenen Industrieareal an Ufer der mit Hausbooten gesäumten Saône: Die mit 7000 Quadratmetern größte der vier Biennale-Kunstbühnen betritt man zwischen schweren farbigen, mit Tauen verzurrten Vorhängen. Der Spazierstock, der hier lapidar hinter einer Säule lehnt, taugt aber nicht für den weiteren Weg: Er ist festgenagelt. Auch die Leiter hätte man gern mitgenommen; etwa um von oben in den rostigen, die ehemalige Werkshalle dominierenden Industriespeicher zu blicken. Sein Geheimnis lüftet sich ein Stockwerk darüber: Robert Kumirowski hat darin eine endzeitliche Bibliothek eingerichtet - ein finaler Rückzugsort mit Ofen, an dem neben Büchern Benzinkanister in den Regalen stehen, an dem sich also das Kulturgut nur noch am Brennwert bemisst. Niedergang. Krise. Tod. Wie Viren breiten sich die Keime einer kranken Gesellschaft in der Schau aus: Barthélémy Toguo trägt mit Särgen symbolisch unsere Zeit zu Grabe. Pierre Bismuth höhlt die Wände wie einen Schweizer Käse aus. Lucian Lamothe entzieht einem Gerüst sein Fundament. Gabriel Sierra knickt eine ganze Wand.

Von Wollfäden ausgebremst

Neben solch wirkungsvollen Installationen haben die vielen unaufdringlichen oder kleinformatigen Arbeiten (hervorzuheben etwa Bernardo Ortiz, Nicolás Paris) kaum eine Chance; manchmal kommen sie einem wie Lückenbüßer auf der langen Wegstrecke vor: die wunderbaren Blätter von Elly Strik, Christian Lhopital oder Marina de Caro haben das Glück, dass der Besucherstrom von Cildo Meireles' 6000 km Wollfäden am Boden gebremst wird. Chancenlos hingegen Zbyněk Baladráns Video "Model of the Universe" (2009): Übertönt vom Nachbarn, müsste man sich schon direkt vor den Monitor auf den Fußboden legen, um Kommentar und Zeichenvorgang nachzuvollziehen. Auf einem Blatt Papier malt Baladrán etwa das Modell eines Universums, das wie der menschliche Körper funktioniert, wo also die Organfunktionen dem System untergeordnet sind; oder eines, das wie ein Theaterstück abläuft, man also verschiedene Stadien der Empathie und Erleuchtung erlebt. Poetisch-clevere Vergleiche. Plakativere Symbolik setzt Gabriel Acevedo Velardes Trickfilm "Escenario" (2004) gewinnbringend ein: Er entwirft das Bild einer Lemminggesellschaft, die sich ihren, sie mit Blindheit schlagenden Despoten nicht nur freiwillig ausliefert, sondern ihnen auch noch applaudiert. Die Rolle der Bildung und Erziehung thematisiert Eva Kotátkova und baut eine geradezu gruselige Folterkammer der gesellschaftlicher Reglementierung. Was fangen wir mit all dem Pessimismus an? In Christoph Kellers Chronologie des medizinischen Films schnappt man das Zitat auf. "Mein individuelles Leben ist nur ein ganz kurzer Wimpernschlag der Zeit." Also resignieren? Und in Michel Huisman wohnlich eingerichteten Fischbauch zurückziehen , wo man sich untermalt von sanfter Musik und Disco-Glitzerlichts in eine bessere Welt träumen kann? Eine Art Jona werden, der im Walbauch göttliche Stürme überdauert und später in eine begnadigte Welt zurückgespien wird. Sind die 40 bis 50 Jahre alten Visionen des Architekten, Ökologen und Philosophen Richard Buckminster Fuller das einzige auf das man in Lyon zurückgreifen kann?

Im Umgang mit dem Medium Film und Video zeigen sich große inszenatorische Schwächen der Biennale: Zwar finden manche Filme, etwa Aurélien Froments famoser, die Natur- mit der Kunstbetrachtung gleichsetzendes "The Plate Tectonic" optimale Projektionsbedingungen vor, daneben gibt es aber arge handwerkliche Fauxpas beim Display, die jedes noch so gute Werk töten. Zum Beispiel die Installation des John Cage Filmes "One11" (1952), einer Arbeit, die den Effekt von Licht in einem leeren Raum behandelt. Er wird in einer weiß ausgemalten und - da hinten offen - nur mäßig abgedunkelten Raumnische präsentiert, an dem sich zudem der Hauptbesucherstrom vorüberschiebt. Man darf sich ausmalen, was das für das mit Ton, Licht und Schatten operierende Werk bedeutet. - Andere französischsprachige Werke, wie "Chronique d'un film" vom Trio Anastas/ Bucher/ Gabri oder Tracey Roses "In the Castle of my Skin" kommen auf der Biennale mit internationalem Anspruch mehr als 360 Minuten lang ohne Untertitel aus.

Aber die selbsterklärenden, oft pathetischen Hingucker machen den Publikumserfolg der heurigen Biennale, die Mitte November bereits 17 Prozent mehr Besucher zählte (205.000) als im selben Zeitraum des Rekordjahrs 2009. Auch Journalisten sind freilich für solche plastischen, mit wenigen Worten zu umreißenden Arbeiten dankbar. Einige davon, darunter der apokalyptische Blutsumpf von Eduardo Basualdo, funktionieren nicht mehr: Ein nach einigen Wochen Laufzeit typisches, auf allen Biennalen der Welt, anzutreffendes Phänomen.

Manches im großen Maßstab ist dennoch wirklich stimmig geraten: etwa der barocke Garten, den Jorge Macchi vor der T.A.S.E., einer ehemaligen Kunstseidenfabrik und dem Schlusspunkt der Lyon-Biennale, installierte. Nirgendwo könnte das Bild eines überholten, nicht zeitgemäßen Systems wirkungsvoller inszeniert sein als mitten in der von Unkraut überwucherten Brache der Moderne und auf den Scherben des Industriezeitalters. Der Barockgarten steht für das monarchische Prinzip der Allmacht, die sich sogar die Bestie Natur unterwirft, sie in Form schneidet, ihr Geradlinigkeit aufzwingt. Die mit der Heckenschere getrimmten Buchsbäume und schnurgeraden Alleen - Reminiszenen an den Resnais-Film "Letztes Jahr in Marienbad" - sind Überbleibsel einer vergangenen Epoche. Hinter dieser zum Kitsch verkommenen Kulisse ist der Vorhang gefallen. Nun ist der Blick freigegeben auf die Ingredienzen unserer Tage: Die im Bau befindlichen Bürotürme spinnen die Illusion vom stetigen wirtschaftlichen Wachstums weiter.
Fern der Wirklichkeit ist auch Lucia Kochs Foto eines White Cubes. Auf Plakatwandgröße aufgeblasen, steht es vor der Fabriksruine. Der ideale, weil neutrale Ausstellungsraum erweist sich jedoch als papieren: Es ist lediglich ein geschickt inszenierter Kartonschuber. 

Im Grunde endet die Biennale hier, vor den Fabriksmauern im Außenbezirk Vaulx en Velin. Aber um neben Yeats mit Schiller einen anderen Dichter zu zitieren: "Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit. Und neues Leben blüht aus den Ruinen." Der Besucher, Akteur auf Noorthoorns Bühne, kann sich entscheiden hier ab- oder weiterzugehen. Das, was der sich auf weiten Strecken auf Erschrecken und Aufrütteln beschränkende Parcour Noorthoorns an positiven Impulsen fehlt, kann man nur wenige Meter daneben selbstständig entdecken. Da entfaltet sich das Gegenmodell zum Barockgarten - eine Art Landschaftsgarten unserer Tage, der mit urbanen Ingredienzen operiert - an den Mauern gedeiht farbenprächtiges Graffiti, in alten Benzinfässern wächst Bambus, irgendwer hat ein Blumenbeet angelegt: Ein Teil des Nebenprojekts "Veduta" (kuratiert von Abdelkader Damani), das die Biennale Lyon in den öffentlichen Raum erweitert, hat hier eine Spielspätte für Konzerte, Performances und Begegnungen geschaffen. Einen Kilometer Stahlrohr hat man zu dem 7600 Kubikmeter großen und 28 Meter hohen "Le kiosque veduta", einem - wenn auch architektonisch anspruchsvollen - Baugerüst verbaut. Die Aussicht, die sich bietet ist ungeschönt, denn die Vedute ist die wirklichkeitsgetreue Darstellung von Landschaft oder Stadt. Blühende Ruinen. Ein Lichtblick. (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD - Printausgabe, 10./11. Dezember 2011/Langfassung)