Die Welt blickt sich nervös um. Hier eine Krise, dort ein Downgrading. Die bange Frage: Wie lange steht die (Finanz-)Welt noch. Die Erde hat sich vor dem Euro gedreht und wird es auch nach dem Euro, meint Börse-Experte Thomas Grüner und räumt mit Mythen und Märchen auf. Im Interview mit derStandard.at erklärt er, warum der Anleger nicht anders kann als er kann, wie Medien den Triumph der Apocalypse ausspielen und was Bankenkritiker mit einem Popstar gemeinsam haben.
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derStandard.at: Sie meinten kürzlich, der Anleger reagiert auf Gefahr an der Börse wie ein Steinzeitmensch.
Thomas Grüner: Die Amerikaner sprechen von einem "fight or flight syndrome". Ein Steinzeitmensch hat instinktiv nur zwei Impulse, um zu überleben: Wegrennen oder draufhauen. Wenn er erschrickt, wird eine Riesenmenge Adrenalin ausgeschüttet, die Muskulatur besser durchblutet, Blutdruck und Atemfrequenz steigen, der Körper ist im Alarmzustand. Beim Anleger läuft physiologisch exakt dasselbe Muster ab. Er reagiert in Panik, als ob ein wildes Tier hinter ihm her wäre. In einem Bruchteil von Sekunden will das Gehirn eine Entscheidung treffen: Entweder alles verkaufen oder die Position verdoppeln - ein fataler Mechanismus für die Börse. Den vernünftigen Mittelweg, beispielsweise in Ruhe zu überlegen oder abzuwarten, sieht die Natur nicht vor.
derStandard.at: Die Evolution als Bremsklotz für die Finanzmärkte?
Grüner: Der Adrenalin-Ausstoß-Mechanismus ist wie ein Bauplan in jedem Menschen verankert, vergleichbar mit dem Betriebssystem eines Computers. Das "menschliche Betriebssystem" hat sich über Jahrmillionen entwickelt, während die modernen Finanzmärkte höchstens 100 Jahre alt sind. Eine generationsübergreifende Evolution kann somit nicht stattfinden. Der Mensch wurde für eine viel gefährlichere Umwelt, als wir es gewohnt sind, gebaut.
derStandard.at: Die da wären?
Grüner: Die Natur sieht hauptsächlich Extremsituationen vor. Ein Eichhörnchen errechnet nicht mit einer Excel-Tabelle, wie viele Erdnüsse es braucht, um über den Winter zu kommen. Ein Tier jagt nicht genau die Menge Fleisch, die es gegen den Hunger braucht, sondern schnappt sich, so sich die Gelegenheit bietet, ein x-beliebiges Riesen-Vieh. Obwohl man als Mensch die Möglichkeit hat, bestimmte Szenarien durchzuspielen, gilt für viele Anleger der Zusammenbruch des Finanzsystems und der Währung als Kernthese. Diese Panikreaktion kann mitunter neben dem "Fight und Flight-Symptom" zu einer Schockstarre führen. Man stellt sich tot wie das Kaninchen beim Anblick der Schlange.
derStandard.at: Ist die zwischenzeitliche Untergangsstimmung an den Finanzmärkten also ungerechtfertigt?
Grüner: Die Medien lieben es, mit den Urängsten der Menschen zu spielen, man denke nur an die Berichterstattung zu den spaßigen Esoterikgruppen und Religionen, die für 2012 den Weltuntergang prognostizieren. Doch die Gefahr, die unbestritten da ist, hat weder jetzt noch auf die Zukunft einen Einfluss. Indem jeder damit rechnet, dass etwas passiert, ist der Überraschungseffekt kleiner. Nehmen wir 100 Optimisten, die ihr gesamtes Geld in Aktien investieren, weil sie mit steigenden Kursen rechnen. Die Märkte können sich in der Folge noch so gut entwickeln, unsere 100 Optimisten haben keine Liquidität mehr, um mehr zu kaufen. Heute stehen wir vor der umgekehrten Situation: Im Glauben, die Welt ginge bald unter, horten die Menschen Cash-Berge.
Nüchterne Zahlen und historische Vergleiche gehen in einer Untergangsstimmung völlig unter. Doch je negativer die Märkte sind, desto näher ist man an der berühmten Stunde null.
derStandard.at: Ist der gemeine Anleger zu dumm?
Grüner: Viele Anleger verstehen die einfachsten Zusammenhänge nicht. Aus Furcht vor einem Bankenkollaps lehnen sie Bankwerte in ihren Depots ab, bunkern ihr Geld aber gleichzeitig als Festgeld auf der Bank. Dass sie der Bank dadurch einen Kredit geben, ist ihnen oft nicht klar.
derStandard.at: Banker haben heute nicht den besten Ruf. Tut man ihnen Unrecht?
Grüner: Die Menschen heute sind völlig "gaga", wenn sie über Banken schimpfen, weil diese Staatsanleihen kaufen. Was sie dabei vergessen: Staatsanleihen gibt es schon seit langem. Schon vor Jahrhunderten wurden Kriege und Feldzüge damit finanziert. Das gesamte heutige Geldsystem beruht in ihren Grundfesten auf der Aufgabe der Bank als Mittler zwischen Kreditgeber und Kreditnehmer. Wer Staatsanleihen als böse Sache abzustempelt, ist nicht in der Lage, komplexe Sachverhalte zu verknüpfen und simple Mechanismen zu verstehen. Er schreit nur Krise, Krise, Schulden, Schulden.
derStandard.at: Ist die Krisen-Diskussion denn überflüssig?
Grüner: Dass Unternehmen noch nie so viele Unternehmenswerte, Private noch nie so viel Vermögen gebunkert haben wie heute, geht in der Diskussion völlig unter. Menschen müssten aus der Panikecke herausgezogen und zum Nachdenken bzw. Nachrechnen gebracht werden: Wie viel Vermögen hatten sie vor 25 Jahren, wie viel heute? Wir befinden uns in einer sehr emotionalen Phase, die Panik ist ein Hype und viele machen mit. Wann haben denn Staaten nicht über ihre Verhältnisse gelebt?
derStandard.at: Nun stehen aber gleich mehrere Staaten in Europa vor der Pleite.
Grüner: Es gab viele Diskussionen, ob die stabilen Staaten es sich überhaupt leisten könnten, ihre "gute" Währung mit Spanien, Griechenland, Italien usw. zu verwässern. Die meisten dieser Schuldenstaaten erhielten ihre Stabilität durch Zufall, sprich durch die Aussicht auf die Teilnahme am Euro. Die Zinssätze sind gefallen, die Haushalte konnten ein wenig konsolidiert werden. De facto aber war die Stabilität nie gegeben. Länder, bei denen jeder Witzbold wusste, dass sie nicht stabil sind, mit ins Boot zu nehmen, war eine rein politische Entscheidung. Bei jeder unternehmerischen Vereinbarung gibt es Absicherungsmechanismen für den Fall einer Insolvenz. Bei den schwachen Euro-Ländern hingegen wurden Larifari-Strafen festgesetzt, was dazu führte, dass der Euro eine totale Fehlkonstruktion war.
derStandard.at: Sie zeigen in Ihrer Studie "Das große Missverständnis", dass sich die Geschichte wiederholt.
Grüner: Das Europäische Wirtschaftssystem EWS hat auch nicht funktioniert. Die strukturellen Unterschiede in der Leistungs- und Innovationsfähigkeit der einzelnen Volkswirtschaften waren viel zu unterschiedlich. Dasselbe gilt für heute. Die für den Euro angestrebte und benötigte Konvergenz zwischen den einzelnen Teilnehmerländern wurde künstlich erreicht, ohne die zugrundeliegenden, strukturellen Ungleichgewichte zu beseitigen. Das aktuelle Auseinanderdivergieren der Euro-Länder ist nur eine logische Folge. Die "Dehnfugen" beim EWS waren offensichtlich zu klein ausgelegt und konnten die unterschiedlichen Entwicklungen in den jeweiligen Volkswirtschaften nicht auffangen. Beim Euro hat man auf diese "Dehnfugen" dann gleich gänzlich verzichtet, anstatt "Puffer" zu schaffen - somit hat die Euro-Krise mit der Einführung des Euro begonnen. Wir sehen heute nicht die Krise, sondern den Versuch der Lösung des Problems.
derStandard.at: Warum klappt es dann mit dem Euro bereits recht lange?
Grüner: Einige der schwachen Euro-Länder haben das Niveau von Entwicklungsländern. Daher ist es nur einem glücklichen Zufall zu verdanken, dass es mit dem Euro so lange geklappt hat: Die Finanzmärkte hingen lange der naiven Vorstellung nach, dass eine Staatsanleihe, solange sie auf Euro lautet, Sicherheit darstellte - gleich, ob sie von Griechenland begeben wurde oder von Deutschland. Die Themen Bonität und Zahlungsschwierigkeiten wurden zugunsten der Währung komplett ausgeblendet. Ob ich meinem Nachbarn 100 Euro, eine Schaufel oder eine Bohrmaschine borge, spielt keine Rolle, wichtig ist einzig, dass ich es zurückbekomme.
derStandard.at: Ist diese Rechnung nicht zu einfach?
Grüner: Finanzmathematik oder das typische Bankrechnen entspricht dem Niveau der 6. oder 7. Klasse im Gymnasium. Ein bisschen Prozentrechnen, ein bisschen Zinseszins- und Renditerechnen ist weiters nicht kompliziert, wird aber von Banken mit ihren Produkten oder neuen Derivaten gezielt kompliziert gemacht. Sie wollen die Illusion erzeugen, dass unser Finanzsystem für den Normalbürger nicht zu verstehen ist, sondern nur von einem hochbezahlten Bankberater.
derStandard.at: Wie geht es Ihrer Ansicht nach weiter?
Grüner: Niemand kann derzeit einschätzen was Angela Merkel will oder wo Deutschland derzeit steht. Dieser Unsicherheitsfaktor ist ebenfalls ein Steinzeitsyndrom: Menschen leben lieber mit blöden Gesetzen als mit gar keinen. Ein Versuch mit Affen zeigte Erstaunliches: Ein Mensch hat zwei- bis dreimal so viel Angst vor Verlust als er sich über einen Gewinn freut. Aussicht auf Veränderung birgt Verlustangst, sprich, im aktuellen Fall Angst, für Schuldenstaaten mitzahlen zu müssen. Die Bedrohung wird viel stärker wahrgenommen als sie tatsächlich ist. Ein Beispiel: Die Deutschen zahlen 100 Euro für die Griechen und ärgern sich um den Faktor drei, während sich die Griechen nur ein-fach freuen.
derStandard.at: Was bedeutet das für die Wahrnehmung der Finanzkrise?
Grüner: Obwohl unser Leben so risikolos wie selten zuvor geworden ist, werden die Risiken immer stärker wahrgenommen - auch auf gesellschaftspolitischer Ebene. Die Amerikaner beispielsweise können über uns Europäer nur lachen, wenn bei Sturmböen von 100 km/h Reporter live parat stehen, um von der möglichen Flutwelle zu berichten. In gewisser Weise sind wir Europäer verweichlicht. Das Gleiche gilt für die Krise: Wir nehmen sie stärker wahr, als sie ist.
derStandard.at: War es ein Fehler, Krisenstaaten zu unterstützen?
Grüner: Es war ein rein politischer Entscheid, Griechenland und Spanien zu retten, damit die beiden Länder „ihr Gesicht" nicht verlieren. Außerdem ist es Blödsinn, dass jedes Land - gleich wie groß es ist - im EU-Rat das gleiche Stimmengewicht hat. Eine einstimmige Abstimmung zu einem Thema bei so vielen unterschiedlichen Interessen wird es nie geben. Diese massiven Konstruktionsfehler gehören behoben, wenn nicht alles auseinanderfliegen soll.
Am Beispiel Griechenland zeigt sich, dass ein großer Teil an Steuern nicht eigetrieben werden kann, weil häufig Grundbucheintragungen nicht existieren. Natürlich könnte man mit Google Maps suchen, wer einen Garten oder Pool besitzt. Es muss wahrscheinlich auch eine Insel geben, wo alle blind sind, denn Zehntausende beziehen eine Versehrtenrente.
derStandard.at: Sie bezeichnen die Europäische Zentralbank als "Schrott-Staubsauger". Warum?
Grüner: Das Handeln von EZB und Fed wird häufig verglichen. Doch wie so oft vergleichen die Menschen die falschen Dinge. Die US-Notenbank kauft ausschließlich US-Anleihen mit hoher Bonität und hat dadurch auch die Kontrolle und die Möglichkeit politischer Einflussnahme. Die EZB kauft mit gutem Geld schlechtes Geld. Das heißt, sie kauft Anleihen, die sonst niemand will. Ein Schrott-Staubsauger eben. Ein riskantes Unternehmen, denn im Falle einer unkontrollierten Staatspleite würde dies enorme zu realisierende Kursverluste der EZB nach sich ziehen.
derStandard.at: Was sagt die Politik?
Grüner: Die EZB hat Gesellschafter in den einzelnen Ländern. Als die Fed anfing, langjährige Staatsanleihen zu kaufen, lag das Renditeniveau viel höher als heute. Dadurch sitzt sie heute auf dicken Kursgewinnen - die EZB hingegen bei steigenden Zinsen und fallenden Kursen auf auf hohen Verlusten. Dadurch erklären sich auch die langen Gesichter der Politiker und die Pankik, als der damalige griechische Premier Papandreou überraschend das Referendum ankündigte. Hätte man sich - wie vorgesehen - auf einen Schuldenschnitt von 50 Prozent verständigt, wäre auch der Verlust für die EZB überschaubar gewesen. Immerhin hat die EZB griechische Anleihen in Höhe von rund 100 Milliarden Euro gekauft.
Bei einem unkontrollierten griechischen Default wäre ein gigantischer Kursverlust entstanden, der von der EZB auszugleichen gewesen wäre. Das hätte den Menschen mit einem Schlag offenbart, dass nun Geld paritätisch aus den Ländern fließen muss. Ein Gedanke, der jeden Politiker schreckt, erzählen sie uns doch am liebsten zehn Mal täglich, dass es bei den Finanzhilfen lediglich um Garantien oder um Bürgschaften geht und dass uns diese nichts kosten. Mit anderen Worten: Bei einer Staatspleite müssten sie das tun, was sie keineswegs möchten - die Karten auf den Tisch legen. (Sigrid Schamall, derStandard.at, 12.12.2011)