Bert Rebhandl traf den US-Regisseur zum Gespräch.
STANDARD: In "Margin Call" / "Der große Crash" beschränkt sich das Geschehen der Finanzkrise von 2008 modellhaft auf eine einzige Nacht. Gab es damals tatsächlich eine Zuspitzung der Ereignisse?
Chandor: Ich beziehe mich nicht im strengen Sinn auf einen einzelnen Vorfall. Es gab aber sicher während dieser Krise einzelne Nächte - das weiß ich aus Interviews, die ich selbst mit Betroffenen geführt habe -, in denen alles darauf ankam, schnell zu handeln. Es gab auch viele Wochenenden, die stark unter dem Druck der Wiedereröffnung der Märkte am Montagmorgen standen. Ich habe mir die künstlerische Freiheit genommen, verschiedene Reihen von Ereignissen zu verdichten. Das Aufregende war, dass es gerade so sehr nahe an der tatsächlichen Wirklichkeit bleiben konnte.
STANDARD: Sie bilden Komplexität durch Beschränkung ab: eine Bank, ein Gebäude, eine Nacht, ein (allerdings sehr großes) Problem.
Chandor: Diese Beschränkung hatte anfangs rein budgetäre Gründe. Ich schrieb das Drehbuch nicht, um es zu verkaufen. Ich wollte es selber verfilmen. Damit musste ich nach Möglichkeiten suchen, eine Geschichte so zu erzählen, dass ich mit einer Million Dollar auskommen konnte. So kam ich auf die Idee: Ich sperre Leute auf einer Etage eines Gebäudes ein, nehme ein Thema und gehe damit die Firmenhierarchie durch. Es geht um Verantwortung auf verschiedenen Ebenen. Diese Struktur, ein großes Problem wie durch ein scharfes Prisma zu zeigen, erwies sich schließlich als Vorteil.
STANDARD: Es gibt verschiedene Identifikationsfiguren, die es leichter machen, da durchzusteigen. Besonders interessant ist Peter Sullivan, dem das Problem zuerst auffällt. Er ist ursprünglich "rocket scientist" - da haben Sie sich einen Witz erlaubt, denn "Raketenwissenschaft" ist in Amerika alles, was für Laien nicht zu durchblicken ist.
Chandor: So war das gedacht - als eine Anspielung auf die Komplexität des Finanzsystems, das nur noch absolute Spitzenkräfte durchschauen. Aber als ich 2008 das Drehbuch schrieb, hatte das auch einen sehr konkreten Bezug: Es gab zunehmend einen "brain drain" zugunsten der Banken. Sie haben aggressiv die besten Leute von den Universitäten angesprochen, es gab große Rekrutierungsveranstaltungen, die Banken haben beinahe wie die Armee um Leute geworben. Das hat aus anderen Wissenschaften Leute abgezogen, die ihr avanciertes Know-how dann in Finanzmodelle einbrachten. Diese Leute würden normalerweise etwas Greifbareres machen.
STANDARD: Das Problem wird im Film allgemein formuliert: Die Formel für die Risikoberechnung von (altmodisch) Soll und Haben vermag die Ausfallsrisiken bestimmter Investments nicht mehr zu erfassen. Wie schwer fiel es, das verständlich zu vermitteln?
Chandor: Das war ganz schön schwierig, deswegen gehen wir auch nicht in die Details. Aber es ist ja gut bekannt, dass es in der Finanzwelt verschiedene Berechnungsmodelle für die Risiken von gebündelten Krediten etc. gab, die mit ihrer mathematischen Form den Ratingagenturen vorgaukelten, dass alles unter Kontrolle sei. Heute wissen wir, dass diese Formeln eher etwas mit Kunst als mit Wissenschaft zu tun haben. Ich habe einmal mit einem Analysten gesprochen, der tatsächlich am MIT Weltraumtechnik studiert hatte und dann zur Citibank ging. Ich fragte ihn, wie sich das anfühlte, wenn man auf dem Bildschirm vor sich in Zahlenkolonnen eine Welt zusammenbrechen sieht. Er antwortete, dass das nur mit einem Ausfall der Schwerkraft vergleichbar ist - als würden die Dinge plötzlich nach oben fallen.
STANDARD: Kevin Spacey spielt den Mann in der Mitte - Sam Rogers einen rechtschaffenen Kapitalisten, der das Undenkbare tun muss.
Chandor: Genau. Er ist eine wichtige Führungskraft, aber nicht ganz oben. Er hält sich für einen anständigen Kerl. An dem, was er tut, sieht er nichts Verkehrtes. Er vermehrt Geld für Leute, damit trägt er zum Wohlstand bei. Und dabei verdient er selbst gut und wird sehr reich. Was in dieser Nacht passiert, wird seine Welt verändern - katastrophal verändern. Ich mag Figuren, denen wir dabei zusehen können, wie sie nach einem Ausweg suchen, und dann möchte ich sehen, was sie tun, wenn es diesen Ausweg nicht gibt. Diese Banker in meinem Film können wirklich nur eines tun, und diese Lösung ist fatal.
STANDARD: Sie sind durch eigene Erfahrungen auf die Idee zu dem Film gekommen, als Ihnen 2008 jemand riet, das Gebäude, das Sie in New York besaßen, zu verkaufen.
Chandor: Das stimmt, aber es war nicht ganz so dramatisch. Wir haben mit ein paar Freunden ein Loft-Gebäude in Lower Manhattan renoviert, das wir gemeinsam gekauft hatten. Jemand, der sich gut auskennt, nahm mich irgendwann zur Seite und legte mir ans Herz, das Gebäude auf den Markt zu werfen. Wir taten es, und ein Jahr darauf lag diese Welt der Immobilien in Trümmern. Das war die Perspektive, aus der ich 2008 das Drehbuch schrieb: Wir hatten uns gerade noch rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Das Wissen dieses Mannes beschäftigte mich danach lange, denn er konnte ja auch nur Prognosen abgeben.
STANDARD: Wie schätzen Sie nun die aktuelle Lage ein? Hat Obama die richtigen Schlüsse gezogen?
Chandor: In den USA wurde sicher eine Gelegenheit verpasst, auch wegen der Gesundheitsreform. 2009 hätte man etwas tun können, da wurde regulatorisch etwas versäumt. Vieles liegt aber auch an der Paradoxie des Problems: Weil die Krise so dramatisch war, mussten unbedingt kurzfristige Maßnahmen getroffen werden. Danach ist es schwierig, in aller Ruhe noch einmal über Konsequenzen nachzudenken. Wir können nur hoffen, dass die Banken selbst gelernt haben. (Bert Rebhandl, DER STANDARD - Printausgabe, 10./11. Dezember 2011)