Alte Geschichten und keinen Ausweg aus dem vermauerten Ostberlin: Julia Franck.

Foto: Mathias Bothor

Rücken an Rücken sitzen sie 1954 im Baumhaus. Die elfjährige Ella erzählt ihrem Bruder Thomas zum wiederholten Mal vom gefallenen Vater, wie er auf Kriegsurlaub gekommen sei, eine Staffelei statt eines Gewehrs über der Schulter. "Es blieb immer dieselbe Geschichte", lehnt sich der Junge an der Schilderung und an die Schwester an, "also stimmte sie, selbst wenn Ella erst ein Jahr alt gewesen war, als er geboren wurde", selbst wenn sie in den Bergen im Februar nicht, wie sie behauptet, Käfer fangend auf der Wiese gesessen sein könne.

Rücken an Rücken betitelt Julia Franck ihren faszinierenden Roman, der in das Ostberlin der Fünfzigerjahre bis zum Mauerbau führt und sich um eine intensive Geschwisterbeziehung dreht. Alle 13 Kapitel tragen, von "Schwanken" bis "Lieben" Infinitiv-Titel. Die Perspektive wechselt zwischen Ella und Thomas; und nicht nur die zentrale Rücken-an-Rücken-Passage gibt feine, aber deutliche Hinweise, dass die Wahrheit der Schilderung keineswegs sicher sei. Für das gesamte Romangebilde ist es von grundlegender Bedeutung, dass Wesentliches aus zweiter Hand mitgeteilt wird. So auch der sexuelle Missbrauch, als dessen Opfer sich die instabile Ella ihrem Bruder gegenüber ausgibt, der ihre Worte aus seiner Erinnerung zur Missbrauchsszene imaginiert - und derart indirekt erfährt man sie als Leser.

Einem deutschen Rezensenten, dem die prinzipielle Unsicherheit dieser Erzählung entgangen war und der den moralischen Vorwurf erhoben hatte, der Zusammenhang zwischen KZ-Opfer und Kinderschänder sei "schändlich", hat Julia Franck kürzlich zu Recht eine "Blockwartmentalität" vorgeworfen. Zudem weiß man nicht nur nach der Lektüre von Primo Levi, Kertész, Semprún, Klüger literarisch von der Vielfältigkeit der Menschen im KZ. Wären alle, die den Horror der Nazis überlebt haben, deswegen und durchwegs Gute, dann könnte wer auf die Idee kommen, das KZ als Besserungsanstalt zu bezeichnen.

Im Romangeschehen fallen den Geschwistern die Unsicherheiten der Erinnerung und der Wahrnehmung in den Rücken, vor allem jedoch die Widrigkeiten einer kalten, meist hinterfotzigen Umwelt.

Die Bildhauerin Käthe, die Mutter von Ella und Thomas sowie von abgeschobenen, auch im Text als Gegenpaar an den Rand gestellten Zwillingen, ist wochenlang abwesend. Hart müsse der neue Mensch gebildet werden, hart, wie sie ihre Statuen aus Stein formt. Käthe schimpft, befiehlt, straft, ohne sich um die Bedürfnisse ihrer Kinder zu kümmern. Wie die Erziehungsmaßnahmen des von ihr rücken-gestärkten kommunistischen Regimes, so ihr Regime im Kleinen.

Unterstützt wird es zunächst von einem Lebensgefährten, dann von einem Untermieter, beide offenbar Stasi-Agenten. Die Geschwister versuchen sich gegenseitig, Rücken an Rücken, und mittels Sprachfantasie zu stützen.

Während Ella, die Wortspiele imaginiert, widerspenstig und selbstzerstörerisch reagiert, schreibt Thomas Gedichte und wächst demütig heran, erträgt den erniedrigenden Arbeitsdienst, bekommt es beim Praktikum im Spital mit Siechtum und Tod zu tun. Bis er die Liebe findet - die Krankenschwester Marie hat allerdings Kind und brutalen Mann. Und so bleibt im vermauerten Ostberlin kaum ein Ausweg. Langsam erschließen sich Vorgeschichten - von Käthes Professorvater und ihrer jüdischen Mutter - aus der Erzählperspektive der Kinder, die mit all den Konflikten und Beziehungen starke Gefühle zum Ausdruck bringen. Käthe hingegen liebt die Steine, ihr sind Erinnerungen zuwider: "Sie mochte den Blick zurück nicht, es sollte vorwärtsgehen."

Es gehe um die Gesellschaft, erklärt sie, "nicht um das Private". Beides aber liegt ihr am Ende in Trümmern, das Private zur Zeit des Mauerbaus - und dass damit auch ihre politische Vorstellung scheitert, drückt ihr Sohn drastisch aus: "Deine Partei ist ein Knast." Wie er aus der DDR flüchten will, so hat er mit Ella auf den ersten Seiten des Romans der Mutter entfliehen wollen.

Familienromane haben in letzter Zeit kaum das Wohlwollen der Leseprofis erregt. Dabei vermögen sie, nicht erst seit Thomas Manns Buddenbrooks, das Bild einer Gesellschaft im Privaten zu konzentrieren und daraus wiederum gesellschaftliche Reflexe zu gewinnen. Julia Franck ist dies mit ihrem vom Deutschen Buchpreis gekrönten Erfolg Die Mittagsfrau 2007 gelungen. Nun legt sie erneut einen literarischen Brennspiegel vor, in dem sie mit dem Zerfall einer Familie soziale, politische sowie kulturelle Brüche bündelt und insbesondere die Frage nach Verantwortung stellt.

Für die vielfältigen Schichten der inneren und äußeren Handlung findet sie eine adäquate Sprache, bezeichnende Motiv-Verschränkungen (Kälte, Wasser, Stein) und starke Sätze: "Am Ende solcher Sätze versuchte er im Gedächtnis rückwärts zu hören", heißt es über Thomas, als Ella ihre Wörter so betont, dass sie den Sinn "fleddert". Und dann: "Sie glaubte jetzt an ihre Geschichte, an jedes Detail. Er wusste nicht, ob sie nur vor ihm so tat, als könnte sie die Welt allein mit ihren Einfällen und Behauptungen ändern - oder ob sie es selbst glaubte." (Klaus Zeyringer, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 17./18. Dezember 2011)