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Martin Wuttke als Emmet.

Foto: Lilli Strauss/AP

Wien - Im Wiener Akademietheater, dem Uraufführungsort von René Polleschs neuem Theorieschwank Die Liebe zum Nochniedagewesenen, trägt eine sturmgepeitschte See einen Nachen. In diesem sitzt die kostbare Fassbinder-Schauspielerin Margit Carstensen (Hattie).

Sie erlebt offenbar eine schlimme Krise, denn: "Alle reden vom Untergang, und ich bin umgeben von den Resten einer Katastrophe, aber ich komme immer noch nicht an das Tragische heran." Aber wie sollte sie das auch? Das Tragische ist in den exzessiven Redefluten des Theatermachers René Pollesch, die von vier Schauspielern mit verteilten Rollen auf die Bühne (Bert Neumann) ausgegossen werden, bloß ein weiterer Begriff.

Begriffe wie "Tragödie", "Krise", "Katastrophe" oder "Liebe" sind die eigentlichen Hauptdarsteller in diesem Texttheater: Sie tauchen unvermittelt aus dem mehrstimmigen Geplapper herauf. Sie bilden sofort Gischtkrönchen auf Polleschs uferlosem Redemeer. Trotzdem badet man warm und weich in ihm: Man fühlt sich erquickt und gekräftigt, das Zuhören macht Spaß, und die dem Schauspielerquartett beigesellte Souffleuse (Sibylle Fuchs) wirft den vor Anstrengung stotternden Schauspielern die Stichwörter wie Sprotten zu.

Zudem ist der häufige Wien-Gast Pollesch natürlich ein eminent gebildeter Dramatiker. Diesmal hat er den entzückenden Woody-Allen-Jazzfilm Sweet and Lowdown ausgeplündert: In diesem stolpert ein tollpatschiger Jazzgitarrist der Legende des großen Django Reinhardt hinterher. Denn während dieser in Europa große Karriere macht, geht Emmet lieber mit seinem Liebchen auf Autoschrottplätze und schießt dort auf Ratten. Eine lustige Zigeunerparaphrase auf die große Depression.

Im Akademietheater hat sich Emmet (Martin Wuttke) in einen blondgelockten Ausdruckstänzer verwandelt, der als ewiger Zweitbester die Bocksbeine zu Debussys Nachmittag eines Fauns anmutig verbiegt. Emmet und seine Geliebte(n) - neben Carstensen fallweise auch Catrin Striebeck als Blanche - erklettern zudem mit dem Eifer von Sonntagsalpinisten eine gelbe, mit Zugluft befüllte Kunststoffwurst, deren Enden zu Kringeln verknotet sind. "Das Ding schlechthin", wie Wuttke ausführt. Es könnten aber auch bloß das "Unglück" und die "Bedeutungslosigkeit" miteinander verknüpft worden sein.

Am nachhaltigsten wirken Zeichen erst durch Rätselhaftigkeit. Auf den raumverdrängenden Knoten dieser Aufführung kann man nicht nur hinaufsteigen. Er schenkt den vier Darstellern Gelegenheit zu zahllosen Redeanlässen. Wuttke: "Zwischen uns steht doch nicht der Knoten, sondern die Vorstellung, dass eine Kommunikation möglich sein könnte."

Vor allem aber zeitigt jeder Kommunikationsversuch eine Art von Aufschub: Solange man über die Liebe spricht, muss man sie nicht praktizieren. Solange man Wuttkes gestückelten Suaden lauscht, den unendlich erhabenen Deklamationen Margit Carstensens, so lange ist die Pollesch-Welt in Ordnung. In ihr dreht man, sinnbildlich, auf Glatzen Locken: eine zutreffende Beschreibung unserer Situation. Verdienter Applaus für alle Beteiligten. (Ronald Pohl / DER STANDARD, Printausgabe, 9.12.2011)