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DNA-Strang und die Frage aller Fragen: Wie komme ich hier wieder raus? Am Ende ist es egal, was diese Welt zusammenhält.

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Expertendiktate aus der Expertendiktatur.

Ich frage mich, warum ich nur noch mich frage und niemand anderen mehr, obwohl ich rund um die Uhr von Wissenden umzingelt bin, während ich selbst, mit dem Tod in Ingmar Bergmans Film Das siebte Siegel zu sprechen, "unwissend bin".

Anfangs stellte ich viele Fragen, Orientierungsfragen gewissermaßen: Sie waren notwendig, und ich bekam die Antworten. Was ist das? Wo sind wir? Wie lang dauert es noch? Wie funktioniert das? Das ist ein Buch. Das ist ein Apfelbaum. Das ist das Gaspedal. Das ist eine Bindehautentzündung. Wir sind irgendwo zwischen Judenburg und Bruck an der Mur, irgendwo zwischen Pontebba und Venzone. Es kann keine Ewigkeit mehr dauern. Das geht so und so. Keine Ahnung, wie das funktioniert; Hauptsache, es funktioniert!

Die Fragen werden schwieriger, substanzieller, prinzipieller, Orientierungsverlustfragen sozusagen; die Antworten ungenauer, unverbindlicher, diffuser. Wozu ist das gut? Wozu brauche ich das? Das gehört zur Allgemeinbildung!

Dann hatte ich nach und nach Fragen, die mit "Warum?" anfingen. So begann das Unheil. Warum bin ich hier? Hier auf der Welt meine ich ebenso wie hier in diesem Land, in dieser Stadt, in diesem Haus. Warum ist etwas und nicht vielmehr nichts? Warum muss immer einer herrschen und regieren? Warum sind die Güter so ungerecht verteilt? Und die Gene? Und die Gelder und das Glück? Warum Krieg? Warum Armut? Warum Hunger? Warum Tod? So begann die Entfernung von den Dingen, Phänomenen und Menschen. So beginnt alles Kausalunglück. So beginnt die Einsamkeit.

Warum sind auf der Bestsellerliste immer andere Autoren, aber immer die gleichen Verlage? Warum sind Gen- und Stammzellenforschung nicht schon weiter fortgeschritten? Warum sind die Menschen so raffgierig, egomanisch, oberflächlich, kurzsichtig? Warum bin ich krank? Warum hat ein Frosch keine Haare?

Ich setzte mich auf einen Stein, schlug ein Bein über das andere, darauf setzte ich den Ellbogen, schmiegte meine Wange in meine Handfläche und fragte mich, ob Fragen und Antworten in Wirklichkeit nicht bloß dazu da sein könnten, um Machtverhältnisse zu etablieren, zu regeln und zu stabilisieren. Zuerst, am Anfang des Lebens, ist der Fragende der Mächtige, der Prüfer, der Fragen stellt, nicht wegen der Antworten, die er längst kennt, sondern um zu erfahren, ob sie auch der Prüfling kennt. Später kehrt sich das Verhältnis um. Der gefragt wird, das ist dann der Mächtige ("ein gefragter Mann ..."); der fragt, der unterwirft sich, solange er Fragen stellt, weil er neugierig, wissensdurstig und abhängig ist. Der Unterworfene rebelliert erst, wenn er Fragen ohne Wissenswille stellt, sondern um zu stören, zu bremsen, zu verhindern.

Frage eines lesenden Schreibenden: Wie lange halten sich die Arschlöcher noch an der Macht? Antwort: Nach den Arschlöchern kommen wieder Arschlöcher. (So genau wollte ich es gar nicht wissen). Noch Fragen? Keine Fragen. Schönes Fräulein, darf ich's wagen, Schutz und Geleit Ihnen anzutragen? Aber nur mit Gummi! Oral macht fünfzig extra! Der Vorhang zu und alle Fragen offen: Wir stehen da und sind noch nicht einmal besoffen! Oheim, waz wirret dir? Das ist ein Risikofaktor, Oheim. Das ist die Neurologie. Das ist die Urologie. Das ist die Kardiologie. Das ist eine Intensivstation. Das ist eine Bypassoperation. Mir wirret gar nix, unverschämter Kerl! Si deus unde malum? Oh, diese geistlichen Hermeneutiker, die so betörend indirekt Klartext sprechen können, sodass man sich anschließend selber wieder enttören und absalben und den Weihnebel aus den Lungen heraushusten muss. Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? Wie und zu welchem Ende treiben wir Philosophie?

Lange Suche, wenig Fund. Schopenhauer hat brauchbare Antworten gegeben, Peisithanatos brauchbare, Gorgias brauchbare Cioran brauchbare, Wittgenstein brauchbare, wenn auch nur formale und dadurch doppelt ernüchternde. Nur bleibt dann keine Frage mehr, und ebendas ist die Antwort. Der große Rest Geschwätz. Hochstapelei. Hermetischer Hauruckhokuspokus. Was ist das Leben? Was der Sinn? Ah, genau, ein Monty-Python-Film! Eh lässig. Ich weiß woher. Ich weiß wohin. Mich wundert nicht, dass ich traurig bin. Wie und zu welchem Ende treibe ich Literatur?

Jetzt also praktische Fragen zur Technik des Romans, auf die mir seriöserweise niemand Geringerer als ich selbst Antwort geben könnte, falls überhaupt. Frage-Antwort-Selbstgespräche, Wissender und Unwissender, Mächtiger und Unterworfener in einem. Fragen, die mich arbeiten lassen, Fragen, die meine Arbeit vorantreiben.

In welche Figur versetze ich mich? Aus welcher tauche ich wieder auf? In welche Zeit reise ich? Wird man erkennen, dass ich nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart meine, auch wenn ich die Vergangenheit wähle? Aus welcher Perspektive erzähle ich? Wie "fasse ich Stoff?" Wie fängt dieses Ich zu sprechen an? Wie hört es wieder auf? Das frage ich mich heute. Ums Schreiben dreht es sich immer. Im Nachhinein betrachtet ist alles ganz von allein – oder gar nicht gegangen. Am Ende ist jeder Roman, jedes Buch eine Abenteuerreise, ein Blindflug geworden, bei dem man alle Pläne über Bord werfen musste.

Warum du und nicht ich?

Warum ausgerechnet du und nicht ich? Warum ausgerechnet ich und nicht du? Glück! Pech! Zufall! Das Glück des Tüchtigen! Das Unglück des Tüchtigen! Das Unglück des Untüchtigen! Das Glück des Untüchtigen! Da ist nichts ausgerechnet. Man muss zur richtigen Zeit am richtigen Platz sein. Und wie findet man die richtige Zeit und den richtigen Platz? Schwer. Die meisten sind zur falschen Zeit am falschen Platz. Pech. Viele sind zur richtigen Zeit am falschen Platz (Pech) oder zur falschen Zeit am richtigen Platz (Pech). Zur richtigen Zeit am richtigen Platz sind nur ganz wenige.

Wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich bitte an unsere Servicehotline (Herzlich willkommen / Ich verbinde / Bitte haben Sie etwas Geduld / Im Augenblick sind alle Leitungen besetzt / Die nächste frei werdende Leitung ist für Sie reserviert). Wenn Sie Fragen haben, benützen Sie bitte einen unserer Antwortautomaten mit integrierten Fragemöglichkeiten am Touchscreen ...; wählen Sie eine Frage aus! Es ist im Interesse der Antworten, wenn nur die Fragen gestellt werden, die sich einwandfrei und eindeutig beantworten lassen. Es ist im Interesse der Mächtigen, dass die Unterworfenen nur die vorgesehenen Fragen stellen, nur die angenehmen, nicht die unangenehmen Fragen, "Rückfragen" und "Hinterfragen" sind im Antwortautomaten nicht mehr vorgesehen. Das sind Versatzstücke einer alten Zeit.

Im Lauf des Lebens werden Fragen immer mehr zu rhetorischen Fragen, d. h. man pfeift von Haus aus auf die Antwort, weil man ihr nicht traut und weil sie weniger als nichts wert ist. Fragen werden nicht mehr aus Notwendigkeit gestellt, nicht mehr aus Wissensdurst, auch nicht mehr aus Mitleid oder Anteilnahme, nur noch aus Höflichkeit oder weil man aus irgendeinem Grund Kontakt aufnehmen, "ins Gespräch kommen" will. Hallo, wie geht's? Danke, grauenhaft.

Viele Fragen habe ich in meinem Leben an Ärzte gestellt, an Experten, Wissenschaftler, Theologen, Politiker und habe immer nur vage Vermutungen, Platituden, Geheimplätze, Gemeinplätze, Wahrscheinlichkeiten als Antwort bekommen. Expertendiktate aus der Expertendiktatur. Das Fragen wird einem im Lauf des Lebens abgewöhnt wie die Fantasie, die Kreativität, die Wahrheitsliebe. Bitte haben Sie noch etwas Geduld. Derzeit sind alle Leitungen besetzt. Die nächste frei werdende Leitung ist für Sie reserviert! Ich habe einen Bekannten, bei dem kommt in jedem einzelnen Satz, den er spricht, mindestens einmal die Phrase "Frage nicht!" vor. So drückt er sein Befremden aus. Be-fremden: Schönes Wort.

Die Frage aller Fragen: Wie komme ich hier wieder raus? Am Ende ist es ganz egal, was diese Welt im Innersten zusammenhält. Am Ende hält ja im eigenen Innersten nichts mehr zusammen. Das ist wahrscheinlich die Prostata. Das ist wahrscheinlich die Leber. Das ist wahrscheinlich ... Aber da sollten wir lieber ein CT machen... Ich frage mich: Wann falle ich um? (Aber die Antwort interessiert mich nicht). Wird man mich finden? Wird man mich retten? Gibt es überhaupt Rettung für einen Zerplatzten? Rettung ist Zufall, wie alles im Leben. Wird man mich verstehen, wenn ich einmal nicht mehr bin, wo man mich doch jetzt schon nicht versteht? Frage nicht! Egal.

Eine Frage zum guten Schluss, die mich interessiert, aber die ich niemandem stelle außer mir selbst, weil ich die Antwort kenne: Wie möchten Sie gerne sterben? Ich weiß schon, was die anderen sagen: Nach einem erfüllten Leben. In meiner Heimatstadt, in meinem Haus, in meinem Atelier, auf meinem Diwan. Zur richtigen Zeit am richtigen Platz sozusagen. Friedlich, leicht, im Schlaf, im hohen Alter. Sehr schön. Aber die Statistik antwortet: Herz-Kreislauf oder Krebs. Tertium sometimes datur: Verkehrsunfall. Alles nix für mich: Ich möchte es selbst in der Hand haben. (Nicht jetzt. Am Ende. Das Ende natürlich künstlich). Fristenlösung in eigener Sache. Nicht Selbstmord, sondern Eigentod. Aber ich möchte es schmerzlos haben und stilvoll machen und elegant. Wer informiert mich über Wirkungen und mögliche unerwünschte Wirkungen? Arzt oder Apotheker oder Waffenhändler? Konkret gefragt: Wie viel Treeslen, Nervenruh forte, Psychopax und Xanor müsste ich auf einen Haufen schlucken, damit ich vor lauter Seelenfrieden friedlich sterbe? Ich möchte nicht aus dem Krankenhausfenster springen müssen, Doctores! Aber nein: Am Ende klammert man sich doch an jeden Strohhalm und jede Sekunde ... Am Ende sind die Antworten so peinlich, dass man schon deswegen keine Fragen mehr stellt. Noch Fragen? Keine Fragen. Bitte haben Sie noch etwas Geduld. Die nächste frei werdende Leitung ist für Sie tütütüt. (Egyd Gstättner, DER STANDARD/ALBUM – Printausgabe, 3./4. Dezember 2011)