Der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch: "Arbeiten, proben - das ist das beste Mittel gegen die 'Heimatdepression'."

Foto: Suhrkamp

STANDARD: In Ihrem kürzlich auf Deutsch erschienenen Roman "Perversion", der in der Ukraine erstmals 1996 publiziert wurde, schreibt der Herausgeber J. A. mit dem Datum Dezember 1994: "Bezeichnend für den Stand der Pressefreiheit in unserem demokratischen Land, regte mich diese Erklärung dazu an, Untersuchungen und ganz bewusst vertraulich gehaltene Nachforschungen anzustellen." Wie sehen Sie aktuell den "Stand der Pressefreiheit"?

Andruchowytsch: Natürlich gibt es einen riesigen Unterschied - im Dezember 1994 funktionierte das Internet noch nicht. Die "Pressefreiheit", die wir bis heute haben, ist nur im Internet möglich. Ich vermag in meinen Kolumnen den Präsidenten so zu beschimpfen, wie ich will (und das will ich ständig). Man könnte denken, dass die Ukraine ein freies Land ist. Aber im Fernsehen und im Radio bekommen wir nur ein Lob der Macht vorgesetzt oder unendlich blöde Shows, die fast alle in Russland produziert wurden. Es ist ein Regime zwischen Putin und Lukaschenko, Russland und Weißrussland, ein drittes Element in einer neuen "ostslawischen Gemeinschaft".

1994/96 war das anders, da war die Ukraine auf dem Pfad der Selbstständigkeit und versuchte eigene Wege zu finden. Pressefreiheit wurde damals mehr deklariert als verwirklicht, jetzt aber ist sie nur deklariert. Die heutige Lage erinnert mich mehr an die UdSSR als an die Ukraine der 1990er-Jahre.

STANDARD: Wie wirkt sich das Klima in diesem Regime auf die ukrainische Literatur aus; spielen die Stimmung und die Machtübergriffe in Ihre Literatur hinein?

Andruchowytsch: Ich reagiere mit Kolumnen, Feuilletons, Essays. Derart sind zahlreiche Kollegen heute wieder publizistisch aktiv. Der einzige Bereich freier Meinungsäußerung ist eben das Internet; je mehr Leute in der Ukraine Zugang haben, desto besser werden wir gehört. Das Internet ist allerdings bei uns sehr schmutzig, da arbeiten - bezahlt - viele Provokateure; dieses "Trolling" ist zu einem Beruf geworden und soll alles Oppositionelle diskreditieren. Natürlich ist die politische Stimmung auch in meinen Romanen und Gedichten präsent, jedoch indirekt. Der gute Text darf nicht zu direkt sein, sonst verliert er an Tiefe.

STANDARD: Wie äußert sich das politische Klima indirekt in Ihrem neuen Werk, das am 11. November erschienen ist?

Andruchowytsch: Das Buch heißt Intimes Städtelexikon, es besteht aus 111 Kapiteln, jedes über eine der 111 Städte, die ich - tiefgreifend oder oberflächlich, kurz oder lang - erlebt habe. Es ist mein Versuch, eine "private Enzyklopädie" zu schaffen oder eine Art "fiktive Autobiografie", die sich durch die Geografie äußert. Die alphabetische Ordnung, in der meine Städte erscheinen, hat mir eine puzzleähnliche Mischung von Zeit und Raum erlaubt. Zudem ist es eine Mischung literarischer Gattungen: Essays, Geschichten, kleine Romane, Prosagedichte, Anekdoten. Der Untertitel bezeichnet es als Handbuch der Geopoetik und Kosmopolitik.

Natürlich gab es keine Möglichkeit, die politische Problematik zu vermeiden, besonders in den umfangreichsten Texten, die für mich auch die wichtigsten Städte markieren: Kiew, Lemberg, Moskau. Auch Berlin, Warschau, Krakau oder Straßburg. Jede Stadt bringt mir ihre eigenen Kontexte, die ohne Politik undenkbar sind. Im Kiewer Text gibt es eine pathetische Passage mit meinen Erlebnissen während und nach der orangen Revolution: die ganze Bitterkeit der späteren Zeiten, die Hoffnungslosigkeit der heutigen Ukraine. Das politische Klima ist jedenfalls von der "intimen Ganzheit" nicht zu trennen.

STANDARD: Der ukrainische Präsident ist ja selbst unter die Autoren gegangen und hat sich eine auflagenstarke Buchpublikation auf Englisch beim Wiener Mandelbaum-Verlag gekauft, offenbar zu seiner kulturellen Legitimation zu Hause und in der EU.

Andruchowytsch: Bei uns haben das die unabhängigen Medien (im Internet) mit viel Sarkasmus breit kommentiert. Eine Sensation war das aber nicht: Man erwartet vom Präsidenten solch "kleine Überraschungen". Neulich ist in Moskau ein großer Band mit den interessantesten Werken der ukrainischen Barockliteratur erschienen. Und wer hat ein Vorwort verfasst? Richtig - Herr Janukowytsch! So vielseitig ist der Mensch, ein Politiker, Wissenschafter, Schriftsteller. Nein, ernsthaft: Im Vergleich zu allem, was er auf dem Gewissen hat, sind die "literarischen" Eskapaden Kleinigkeiten.

STANDARD: War also die orange Revolution umsonst? Dient sie nur noch als Mythos?

Andruchowytsch: Dass Sie mich das gerade am siebten Jahrestag der Revolution fragen! In der Nacht vom 21. auf den 22. November 2004 strömten die ersten Protestierenden in Richtung Majdan. Keinesfalls war das umsonst; vor allem für die kollektive Erfahrung des aktiveren Teils der ukrainischen Gesellschaft nicht. Jede Macht kann man ändern, die gefälschten Wahlen bedeuten noch kein Ende der Geschichte. Ich bin sicher, dass diese Erfahrung für das heutige Regime eine Art Zeitbombe ist, die hochgehen wird. Wir wissen nur nicht, wann genau. Viele zivilgesellschaftlichen Organisationen haben für heute Abend (21. November 2011, Anm.) ein "Treffen der Bürger" auf dem Majdan angekündigt. Sie wollten ganz friedlich ihre Treue zu den orangen Idealen demonstrieren, einfach miteinander reden. Die staatliche Administration der Hauptstadt hat das verboten: Es werde der Weihnachtsbaum auf dem Platz montiert. Nachmittags erfuhr man, dass das ganze Majdan-Territorium gerade mit einem neuen Zaun geschlossen werde. Inzwischen kamen immer mehr Spezialeinheiten der Miliz auf den Platz, in voller Ausrüstung, bereit zum Einsatz. Gegen wen? Das Janukowytsch-Regime zeigt seine Angst, die ziemlich panisch aussieht. Es ist die Angst, dass "es" wiederholt werde. Dem Regime ist "es" ein Albtraum, kein Mythos. Ein permanenter Albtraum kann aber vielleicht doch ein Mythos werden?

STANDARD: Im Ausland haben Sie mit Ihrer Literatur großen Erfolg, Ihre Bücher erscheinen in renommierten Verlagen wie Suhrkamp, Sie werden regelmäßig eingeladen. Wie sieht man Sie und Ihre Literatur in der Ukraine; wie gehen die präsidententreuen Medien mit Ihrem internationalen Erfolg um?

Andruchowytsch: Um ehrlich zu sein: Ich würde meinen Erfolg im Ausland nicht überbewerten. Es stimmt, dass ich einer der bekanntesten ukrainischen Autoren bin. Ob das einen richtigen Erfolg bedeutet - da habe ich Zweifel. Es ist keine besondere Leistung, in einer so unbekannten Literatur wie der ukrainischen "einer der bekanntesten Autoren" zu sein. In offiziellen Medien bin ich wenig präsent. Sie brauchen sich mit meinem "internationalen Erfolg" nicht zu beschäftigen, da sie davon nichts wissen. Wenn ich von ihnen erwähnt werde, dann eher als erfolgloser Schreiberling, der sein Land hasst, weil niemand ihn hier lesen wolle. Deswegen erbettle er immer etwas vom Westen, einen Aufenthalt vor allem. Er habe die Ukraine praktisch verlassen. Ein unsympathischer Typ, muss ich gestehen.

STANDARD: Mit welchen Gefühlen kehren Sie jetzt, in dieser politischen Situation, zurück?

Andruchowytsch: Die Verbindung mit der Ukraine habe ich jetzt in der Schweiz für keine Minute verloren. Meine Stimmung wurde ruhiger und friedlicher. Nun kommen jedoch die härteren Zeiten; ich muss mich wieder umstellen, das Heimatland sieht abscheulich aus, ohne Perspektive und deprimierend. Noch nie habe ich von Freunden, die sonst auf alles optimistisch reagierten, solch hoffnungslose Einschätzungen gehört. Es ist aber das Land, in dem ich das breiteste Publikum habe, von dem ich am besten verstanden werde, und wo ich vielen Menschen mehr bedeute als nur ein Schriftsteller. Am 18. Dezember spiele ich in Kiew mein Konzert mit der polnischen Band Karbido, ein neues Programm mit dem Titel Absinth. Ich bin sicher, dass der Saal im Konservatorium wieder voll sein wird. Arbeiten, proben - das ist das beste Mittel gegen die "Heimatdepression".

STANDARD: Ohne Perspektiven? Sie erwarten also nicht, dass die Fußball-Europameisterschaft irgendetwas bewirkt?

Andruchowytsch: Irgendetwas schon. In Lemberg wird ein neuer Flughafen funktionieren. Das bedeutet, dass meine Auslandsreisen viel bequemer werden, hoffentlich. Tja, diese EM könnte für die Ukraine eine schöne Modernisierungschance werden, wenn die Macht und die Gesellschaft ehrlich darauf hinarbeiten würden. Es war aber nur ein Traum, dass sie zu einer solchen Aufgabe fähig wären. Auf welchem Stand sind wir denn heute? Zu wenige Straßen, zu wenige Hotels, zu wenige Leute, die Fremdsprachen sprechen, eine gefährliche Miliz, unfreundliche Taxifahrer, ein kaputter öffentlicher Verkehr - herzlich willkommen! Man rechnet natürlich mit Wodka, Bier und Prostituierten; sie sollen die Lage retten. Aber was noch schlimmer ist: Man spricht bei uns immer öfter darüber, dass die Euro 2012 die letzte Bremse für das Regime ist. Nachdem das Ereignis mit großem Misserfolg vorbei sein wird, wird uns eine eindeutige Diktatur beschert werden - und das Land wird nolens volens in die neue, von Moskau regierte Euroasiatische Union eingezogen. (Klaus Zeyringer, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 3./4. Dezember 2011)