Trocken zu werden ist ein erster und wichtiger Schritt für Wolfgang Renner in ein neues Leben.

Foto: derStandard.at/ham

Tageslicht gibt es nicht in der Gruft. Aber es ist warm und trocken und es sind immer Leute hier.

Foto: derStandard.at/ham

Es wird gelesen, getratscht, Kaffee oder Tee getrunken.

Foto: derStandard.at/ham

Das Murmeln ist gedämpft. Ab und zu hört man ein paar lautere Worte.

Foto: derStandard.at/ham

Entweder kochen die Klienten selber oder freiwillige Mitarbeiter schwingen den Kochlöffel.

Foto: derStandard.at/ham

Gelesen wird viel in der Gruft. Damit vertreibt man sich die Zeit.

Foto: derStandard.at/ham

Die Steinstufen hinunter in das Gewölbe unter der Barnabitenkirche in Wien-Mariahilf bedeuten seit 25 Jahren den Weg zu einer der letzten Stationen des sozialen Abstiegs. Hinter der dunkelbraunen Holztür mit Aufschrift "Gruft" erwartet viele aber auch ein neuer Anfang.

Daran arbeitet auch Wolfgang Renner, 47. Er hat den Weg nach unten bereits hinter sich: "Ich hab jemanden erschlagen", sagt er. "Der Typ hat meine Frau umgebracht. Und meine Tochter. Bei einem Autounfall. Ich bin durchgedreht. Das war's. Zehn Jahre Schmalz." Das Ganze erzählt er ohne merkliche Gefühlsregung und scheint, weder Verständnis noch Mitleid noch Anklage zu erwarten. 

Ein paar Männer mit kläffenden Hunden stehen im Eingangsbereich, von Neonröhren grell beleuchtet. Sie rauchen, trinken Tee und warten, um ihre Wäsche zu waschen. "Die Klienten legen Wert auf ihr Äußeres. Das hat etwas mit Selbstwürde zu tun", erklärt Susanne Peter, Leiterin des SozialarbeiterInnen-Teams. Peter war von Anfang an dabei, arbeitet seit 25 Jahren mit Obdachlosen.

Den "typischen Obdachlosen" gibt es nicht mehr

Seit einem Vierteljahrhundert ist die Gruft der Wiener Caritas Anlaufstelle für Wohnungslose, die hier einen Schlafplatz für die Nacht finden und drei Mahlzeiten am Tag. 17 Prozent der WienerInnen sind arm oder armutsgefährdet. In Österreich gilt als arm, wer weniger als 994 Euro im Monat zur Verfügung hat. Geschätzte 800 Menschen in Wien sind permanent obdachlos, über 7.000 nehmen zeitweise Obdachloseneinrichtungen in Anspruch - Tendenz steigend. "Den 'typischen Obdachlosen' mit langem Bart, der sich auf der Parkbank an seinen Doppler klammert, gibt es kaum noch", sagt Klaus Schwertner, der seit drei Jahren als Pressesprecher bei der Caritas tätig ist.

Die Klientel habe sich stark verändert, erzählt Schwertner. Immer häufiger würden jetzt sehr junge Menschen kommen, oft mit massiven Schulden. Vor allem unbezahlte Handyrechnungen sind bei vielen der Einstieg in die Schuldenfalle. Aber auch Scheidung oder Krankheit können Leute in eine Lage bringen, aus der sie keinen Ausweg mehr finden. Meist ist es eine Verkettung mehrerer Umstände, die Menschen in die Armut treibt. In die Gruft kommen Berufstätige, Selbständige, ehemalige Ärzte, Polizisten und Bankdirektoren. Armut stigmatisiert, macht einsam. Dabei wird man "schneller als man denkt vom Spender zum Obdachsuchenden", sagt Sozial-Teamleiterin Susanne Peter. Tatsächlich fällt es bei einigen Klienten schwer zu glauben, dass sie auf die Essensrationen der Caritas angewiesen sind. "Hierher kommt keiner, der es nicht wirklich braucht", so Peter.

Murmeln erfüllt den Raum, der Duft nach Essen liegt in der Luft. Es gibt Gemüsesuppe. Die Klienten kochen heute selber, sonst sind auch Freiwillige hier, die aufkochen. Aus dem Radio klingt Popmusik, dazwischen hört man das Hacken des Küchenmessers, Gemüse wird geschnitten. Der Kochbereich grenzt ohne Trennung an den Speisesaal, der ab dreiviertel zehn zum Schlafsaal wird. "Schleich dich, du Trottel", faucht jemand über die Theke zur Küche. Aus dem Nichts entflammt inmitten der lesenden und Kaffee schlürfenden Klienten ab und zu auch ein Anflug von Gereiztheit.  Bei aufkeimenden Streitigkeiten greifen entweder die Klienten selbst oder die SozialarbeiterInnen kalmierend ein. Die immer lauter keifende Hundemeute allerdings ist kaum zu bändigen. "Hunde", sagt Susanne Peter, "sind für diese Leute oft die einzigen Freunde und Zuhörer, die nicht zurückreden".

Trocken werden als erster Schritt

Einen Hund hat Wolfgang Renner nicht. Aber einen Freund, bei dem er zur Zeit wohnt. "Fünfzehn Jahre hab' ich damals ausgefasst, zehn davon hab' ich abgesessen". Damit hat sein Abstieg begonnen. Auf das Gefängnis folgten fünf Jahre auf der Straße. Alkohol war immer dabei. Der Weg über die Treppen hinunter in das Gewölbe sei ihm nicht schwer gefallen, aber der Weg bis zu dem Punkt, an dem er sich selber eingestehen musste, dass er Hilfe braucht, sei ein harter gewesen. "Ich zieh' das jetzt durch. Ich bin trocken - nach einem Entzug, den ich in der Gruft begonnen hab'." Seit August trinke er jetzt keinen Alkohol mehr, sagt er und lächelt verschämt. Den letzten Rückfall hatte er im März. Jetzt hat er Aussicht auf einen betreuten Wohnplatz: "Bald werde ich meine eigene Wohnung haben."

Alkohol ist in der Gruft verboten. Die damit verbundene Aggression ist nicht kontrollierbar, offensichtlich Betrunkene erhalten keinen Zutritt. Menschen, die Probleme mit ihrer Körperhygiene haben, werden dazu angehalten, sich zu duschen. Es wird entlaust, Wunden werden versorgt, Kleidung verteilt. Psychologen stehen für Gespräche zur Verfügung. Auch Renner hat hier eine Psychologin gefunden: "Im Häf'n hab' ich der Psychologin einfach das erzählt, was sie hören wollte. Hier geht das nicht. Die wissen genau, was los ist", sagt er und grinst Susanne Peter an.

Gegessen wird pünktlich

Gegen 19 Uhr stehen die ersten von ihren Tischen auf und begeben sich in Richtung Küche. Es ist langsam Zeit fürs Abendessen, die Essen- und Schlafenszeiten werden sehr genau eingehalten.

Tageslicht gibt es nicht in der Gruft, aber es ist warm und die Tee- und Kaffeespender sind immer voll. Ein junger Mann, Anfang 20, nimmt sich zum wiederholten Mal eine Tasse Tee, schlürft vorsichtig und beobachtet die Gesellschaft. Von sich erzählen will er nicht und auch seinen Namen will er nicht sagen. "Wenn mein Vater erfährt, dass ich hier bin, erschlägt er mich", sagt er nur und lächelt bitter.

Soziale Ausgrenzung ist für viele Gruft-Besucher ein großes Problem - oft selbst gemacht. Viele schämen sich für ihre Situation und legen Wert darauf, dass ihre Familien und Freunde nichts davon erfahren. "Mit meiner Mutter hab' ich seit kurzem wieder telefonischen Kontakt", erzählt auch Wolfgang Renner. Mehr sei noch nicht möglich, zu groß sei die Scham über alles, was in den vergangenen 15 Jahren passiert ist. Außerdem sei seine Mutter davon überzeugt, dass er nicht alkoholkrank sei: "Für sie ist Trinken wie Essen: Wenn man es will, tut man es - und wenn nicht, dann tut man es eben nicht."

Das Sesselrücken wird lauter, die Schlange vor der Essensausgabe formiert sich langsam. Wolfgang Renner stellt sich nicht an. "Ich esse nicht hier. Ich gehe heim", sagt er. "Das heißt, ich gehe zu meinem Freund. Noch." (Mirjam Harmtodt/derStandard.at/01.12.2011)