Zuletzt ist der ruhelose Heinrich von Kleist (1777- 1811) doch noch in seiner Sehnsuchtsstadt angekommen: in Wien. In einem weißen Gassenlokal in der Mariahilfer Schadekgasse steht eine verfrorene Dame in dunkler Weste (Barbara Kraus).

Sie erzählt auf die denkbar unverkrampfteste Weise von des Dichters letzten Lebensstunden. Davon, wie er mit seiner Todesgenossin Henriette Vogel von Berlin aus an den Kleinen Wannsee reiste, auf halbem Wege nach Potsdam. Wie er mit der angeblich Krebskranken den liebenswürdigsten Umgang pflegte, sie neckte, ihr Kosenamen zudachte und mit ihr hinter einer Batterie von Flaschen (Wein, Rum) dem Morgen des 21. Novembers 1811 in stiller Zuversicht entgegenharrte.

Traut man den Auskünften der Wirtsleute, so war dieser kleine, angeblich stotternde und ungemein gehemmt wirkende Mann nie so ausgelassen wie am Tage seines akribisch vorbereiteten Suizids. Sein letztes Projekt in einer unendlich langen Reihe von Unternehmungen schien den größten Erfolg zu verheißen: einer bis ins Krankhafte reichenden Empfindlichkeit die Angriffsfläche zu nehmen.

Kleists letzte Briefe, an denen sich Regisseurin Sabine Mittereckers kluge Theaterpunkt-Performance Ich bitte Gott um den Tod und dich um Geld in der Galerie von Amer Abbas emporrankt, sind Zeugnisse einer ungeheuerlichen Denkungsart.

Kleist scheiterte nacheinander als Offizier, als Beamter, Bauer, Schriftsteller, Agent, Erfinder, Reisender und Zeitungsherausgeber. Andere hätten sich vielleicht mit Geringerem begnügt: Wären als Nebenerwerbsdichter die Karriereleiter des preußischen Staates unverdrossen hochgeklettert. Sie hätten sich die behaglichen Pantoffel des Ehelebens übergestreift und wären sogar noch Zeugen von Napoleons Untergang 1815 geworden. Kleist als Biedermeier-Autor, der eine Porzellanpfeife schmaucht, während ein halbes Dutzend kleiner Musterpreußen um seine Knie streicht: eine unbehaglich stimmende Vorstellung.

Eben weil Kleist die Welt "gebrechlich eingerichtet" vorfand, hätte er nicht übel Lust besessen, sie zu zersprengen. Barbara Kraus kommt in ihrer heiter-rasenden Fahrt durch Kleists Leben einmal auf den "Luxus der Affekte" zu sprechen: Nur um seinetwillen wären wir überhaupt am Leben. Kleists Bestimmung bestand darin, die Affekte nicht zu temperieren, sondern ihre Kraft- und Gewaltpotenziale zu entfesseln. Kleists Extremismus lehrt die Schwierigkeit, Aufrichtigkeit als lebbare Tatsache zu begreifen. (Ronald Pohl  / DER STANDARD, Printausgabe, 1.12.2011)