Wenn Meerestiere verenden, steht eine große Schar hungriger Mäuler und Schnäbel bereit. Das meiste tote Material wird schon in den oberen Wasserschichten vertilgt, sodass gewöhnlich nur recht wenig Aas den Meeresboden erreicht. Wenn allerdings ein großer Wal stirbt und in die Tiefe sinkt, fällt dort auf einen Schlag eine gewaltige Masse an Nahrung an.
Wie sich in den letzten Jahren herausgestellt hat, stellen Walkadaver einen ganz speziellen Lebensraum für eine Fülle von Lebewesen dar. Eines davon gibt der Wissenschaft nach wie vor Rätsel auf. An deren Lösung arbeitet derzeit auch die junge Österreicherin Sigrid Katz.
2002 wurde an einem Grauwalkadaver in der kalifornischen Monterey-Bucht in knapp 3000 Metern Tiefe eine bis dahin unbekannte Wurmart entdeckt, die auf den bezeichnenden Namen Osedax - Knochenfresser - getauft wurde. Auf dem Walskelett sehen die Tiere wie dünne weiße Fäden mit roten Spitzen aus, in Wirklichkeit ist ihr Körper jedoch in vier Regionen gegliedert: einen einziehbaren Rumpf, aus dem eine Tentakelkrone ragt, einen sackförmigen Bereich (der "Eisack") und eine verzweigte "Wurzel", mit der sie sich in das Innere der Walknochen bohren und an die darin enthaltenen Fette gelangen. Unklar ist, wie sie diese aufnehmen, denn sie haben keinen Darm. Diesen und anderen Fragen geht die Schrödinger-Stipendiatin Sigrid Katz am Scripps-Institut für Ozeanografie in Kalifornien nach.
Keinen Darm zu haben ist in der Familie der Siboglinidae oder Bartwürmer, zu denen Osedax gehört, keine Besonderheit. Auch der bis zu 2,4 Meter große Riesenröhrenwurm Riftia, der in tausenden Metern Tiefe an den Abhängen unterseeischer Heißwasserschlote lebt, verfügt über kein funktionierendes Verdauungssystem, ebenso wie viele andere Bartwurmarten.
Sie alle lösen das Problem des Nahrungserwerbs mithilfe anderer: In einem speziellen Organ ihres Körpers, dem Trophosom, beherbergen sie chemoautotrophe Bakterien. Diese sind imstande, anorganische Verbindungen wie Schwefelwasserstoff oder Methan in organische Verbindungen umzuwandeln, die dem Wurm als Nahrung dienen.
Nun enthält zwar auch Osedax symbiontische Bakterien, diese sind aber nicht autotroph, das heißt sie brauchen selbst organische Nahrung, was sie eigentlich zu Konkurrenten ihres Wirtes macht. Nichtsdestotrotz haben Untersuchungen, bei denen die Stoffflüsse in Osedax verfolgt wurden, gezeigt, dass die Mikroorganismen massiv an der Nährstoffversorgung der Würmer beteiligt sind. Wie sie das machen, ist allerdings noch unbekannt.
Ein eigenes Trophosom, in denen die Wirte sie beherbergen, sprach man Osedax ursprünglich ab. Wie Sigrid Katz und ihre Kolleginnen zeigen konnten, gibt es jedoch sehr wohl eines: Während es bei anderen Sibogliniden ein eigenes, abgegrenztes Organ im Körperinneren ist, ist es bei Osedax in die Körperwand integriert und unterscheidet sich auch in der inneren Organisation vom Trophosom anderer Würmer.
Wer wen ernährt
Die darüber liegende Haut unterscheidet sich deutlich von der Haut in den vorderen Körperregionen und könnte am Aufschluss der Walknochen beteiligt sein: Die Meeresbiologinnen nehmen an, dass sie sowohl Verdauungsenzyme abgeben als auch gelöste Nährstoffe aufnehmen kann. Fraglich ist, wer die Verdauungsenzyme produziert, mit denen Osedax sich in die Knochen bohrt: der Wurm oder die Bakterien. "Eines der Ziele des Projektes ist es, herauszufinden, wer hier wen ernährt", fasst Katz zusammen.
Wie frühere Experimente an der Scripps Institution of Oceanography gezeigt haben, müssen es für Osedax übrigens nicht unbedingt Walknochen sein: Auch im Meer versenkte und in der Folge überwachte Knochen von Kühen und großen Fischen wurden von dem bohrenden Wurm erfolgreich besiedelt. Bis dahin hatte man angenommen, dass die kleinen Knochenfresser ausschließlich auf toten Walen leben können.
Ein selbstständiges Leben führen bei Osedax übrigens nur die Weibchen: Die Männchen sind mikroskopisch klein und verbringen ihr komplettes Dasein in der gelatinösen Röhre, die den Rumpf der Weibchen umhüllt. Ein einziges Osedax-Weibchen kann mehr als 100 solcher Mikromännchen beherbergen, die fast zur Gänze mit Spermien gefüllt sind.
Die aus dieser Verbindung entstehenden Larven interessieren Katz übrigens auch: Nach einer kurzen Freischwimmphase setzen sie sich auf dem Walkadaver fest und beginnen die Umwandlung in erwachsene Tiere. Zu diesem Zeitpunkt enthalten sie jedoch noch keine symbiontischen Bakterien, denn diese werden ihnen vom Muttertier nicht mitgegeben. "Wir wissen bisher weder, ob die Larven einen Darm haben, noch wie sie sich ernähren", erklärt Katz - die hofft, in absehbarer Zeit ein paar der offenen Fragen beantworten zu können. (DER STANDARD, Printausgabe, 30.11.2011)