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Um als Anwalt oder Anwältin erfolgreich zu sein, empfiehlt es sich, "zwei Stunden länger [zu] arbeiten als die Kollegin oder der Kollege, der/die am längsten arbeitet" oder an einem Feiertag um 23.15 Uhr Klientinnenanfragen zu beantworten, die um 23.00 Uhr eingelangt sind (beide Beispiele entstammen den Ausführungen eines Wirtschaftsanwalts in der Beilage "Wirtschaft und Recht" der Tageszeitung DER STANDARD vom März 2011).

Akkurate Vorbereitung auf jede auch nur denkbare Situation

W. arbeitete nach diesen und ähnlichen Credos mehrere Jahre lang sehr erfolgreich als Rechtsanwaltsanwärterin. In diesem Beruf sah sie eine große Herausforderung. Gerade die Vielseitigkeit betonte W. regelmäßig als Vorteil der anwaltlichen Ausbildung gegenüber anderen Juristinnenberufen. Meist blieb aber nur wenig Zeit, um sich rasch in ein Rechtsgebiet einzuarbeiten, um dann - gerade bei Verhandlungen - den Mangel an Erfahrung durch penible Aktenkenntnis und gründliche Einarbeitung in die Materie ausgleichen zu können. Oft war die Zeit dafür sogar deutlich zu kurz. Dieser Umstand war für W. aber kein Grund, sich selbst gegenüber nachsichtig zu sein. Weder Klientinnen, noch Kolleginnen oder Richterinnen hätten jemals Anzeichen von Fehleranfälligkeit oder schlichter Unkenntnis zu sehen bekommen dürfen. Sich in schwierigen Situationen einmal auf ihr junges Alter oder den Umstand auszureden, dass sie sich als Konzipientin ja in Ausbildung befinde, wäre nie auch nur eine Erwägung wert gewesen. Es blieb also nur die zeitaufwendige, akkurate Vorbereitung auf jede auch nur denkbare Situation.

Fehler hatten genauso wenig Platz wie ein "nein"

Dies gelang ihr über mehrere Jahre ganz gut. W. war sowohl in der Kanzlei als auch bei Klientinnen sehr geschätzt und baute sich stetig einen guten Ruf auf. Dazu trugen auch Veröffentlichungen in Fachzeitschriften und die Erschließung neuer Geschäftsfelder für die Kanzlei bei. Ihre Chefs übertrugen ihr Schritt für Schritt mehr Aufgaben, die sie immer tadellos und mit großem Engagement erledigte. Zu viel wurden ihr diese Tätigkeiten nie, im Gegenteil, sie schien immer neue Aufgaben geradezu aufzusaugen. Kurzum, das berufliche Leben von W. war geprägt vom Bestreben, Anerkennung durch überdurchschnittliche Leistung zu erhalten. Fehler hatten da genauso wenig Platz wie ein "nein" oder "jetzt nicht". Und wenn es mit der Zeit zu eng wurde, mussten eben Wochenenden, Abende und Nächte herhalten, um das (selbst) auferlegte Pensum zu erfüllen.

Private Zweifler

Im privaten Umfeld war W. immer wieder mit Fragen konfrontiert, ob sie denn nicht etwas kürzer treten, nicht etwas mehr Freizeit genießen wolle. Manche erlaubten sich gar darauf hinzuweisen, dass sie doch auch mit etwas weniger Aufwand genauso erfolgreich sein könnte. Diese wohl gemeinten, aber als unnötige Einmischung wahrgenommenen Ratschläge beantwortete W. in der Regel mit dem Hinweis darauf, dass man als Konzipientin sonst nicht erfolgreich sein könne. Man habe nur wenige Jahre Zeit, um sich einen Namen aufzubauen und aus der großen Anzahl der übrigen Kolleginnen hervorzustechen. Dann später einmal, wenn der erhoffte Erfolg eintreten würde, werde sie natürlich etwas kürzer treten, dann werde sie eine Konzipientin einstellen, die sich dann genauso "reinhängen" werde müssen, wie nun eben sie selbst. Im anwaltlichen Berufsfeld sei das nun mal so; wer nicht an den Wochenenden und bis spät in die Nacht hinein arbeite, zeige nicht genügend Leistungswillen und Erfolgsorientierung. Ganz vermochten diese Floskeln zwar nicht zu überzeugen, aber nachdem W. derart aufging in ihrer Tätigkeit und mit so großer Leidenschaft ihren Beruf ausübte, verstummten die Zweiflerinnen langsam.

Hin und wieder, wenn sie am Sonntag morgens nicht aus dem Bett kam oder beim Ausgehen mit Freundinnen die Gedanken an noch unerledigte Aufgaben nicht abstellen konnte, kamen ihr leise Bedenken, ob das alles denn so richtig wäre. Immer öfter gingen diese (kurzen) Phasen des Zweifels mit körperlichen Zuständen des Unwohlseins einher. An den wenigen arbeitsfreien Wochenenden wurde sie regelmäßig krank. Sie merkte, dass sie den ständigen, bei der Arbeit auftretenden Adrenalinschub brauchte, um zu „funktionieren". Schritt für Schritt füllte sie daher ihre Freizeit mit Arbeit. Der Laptop wurde ihr zum ständigen Begleiter; per E-Mail und Handy war sie stets zu erreichen. Doch W. wandelte sich auch privat zur Konzipientin: Sie kleidete sich in ihrer Freizeit nur kaum lockerer als im Büro, sprach mit ihren Freundinnen wie mit ihren Klientinnen (prägnant, sachlich, etwas distanziert und mit den Gedanken immer schon bei der nächsten Sache) und wurde schließlich unausgeglichener und gereizter.

Zunächst körperlich geschwächt

Dann ging es Schlag auf Schlag: Zunächst fesselte sie ein Infekt mehrere Tage an das Krankenbett. Man merkte ihr an, dass sie unheimlich geschwächt war - aber nur in körperlicher Hinsicht. Noch fiebrig verfasste sie bereits wieder erste Schriftsätze, die - wie sie meinte - doch von sonst niemandem hätten erstellt werden können. Das ging noch geraume Zeit so weiter, dann plötzlich verließ W. ihre Stimme. Sie konnte nur noch leise und mit großer Anstrengung sprechen, begann sich regelmäßig zu verhaspeln oder zu stottern. Dieses sprachliche Unvermögen machte sie unsicher. Dazu kamen kognitive Aussetzer, die dazu führten, dass sie Gedanken nicht fortsetzen konnte oder beim Sprechen den Faden verlor. In diesem Zustand konnte sie nicht mehr mit Klient_innen sprechen, sie konnte nicht mehr kommunizieren und sie sah sich schließlich nicht mehr in der Lage, einer Verhandlung zu folgen, geschweige denn aktiv daran teilzunehmen. Ihr erschöpfter Körper legte mit der Stimme den Bereich lahm, der für ihr "Funktionieren" unersetzbar gewesen war. Damit war der Punkt erreicht, an dem W. den an sie gestellten Anforderungen nicht mehr gerecht werden konnte. Ihr wurde auf drastische Weise vor Augen geführt, dass sie im Bestreben, ihre Leistungsgrenzen immer weiter hinauszuverschieben zu lange nicht deren fortwährende Überschreitung wahrgenommen hatte.

Phase der Isolation durch totale Erschöpfung

Den Zustand totaler Erschöpfung konnte W. zunächst nur schwer ertragen - musste ihn aber hinnehmen. Als Reaktion auf die zuvor im Übermaß gepflegte Kommunikation benötigte sie nun zunächst eine Phase der Isolation, in der sich W. intensiv mit ihren Bedürfnissen, Vorstellungen und Verhaltensmustern auseinandersetzte. Es dauerte fast zwei Monate, bis sie sich wieder in der Lage sah, mit Menschen zu kommunizieren. Einem geregelten Arbeitstag konnte W. erst Monate später wieder nachgehen - und das nur in reduzierter Form. Noch heute machen sich beim Telefonieren mit dem Handy rasch Erschöpfungserscheinungen bemerkbar.

Die nun entschleunigte Vielarbeiterin ist für ihr Ausbrennen aber mittlerweile dankbar. Andere bekommen (oft erst später) die Lektion ohne neue Chance verpasst, erleiden Schlaganfälle oder Herzinfarkte, werden antriebslos und depressiv oder stürzen sich in exzessives Suchtverhalten. W. lernt jetzt einen achtsamen Umgang mit ihren und den Ressourcen anderer zu pflegen und nimmt wahr, dass es viele gibt, die kurz davor (oder schon dabei) sind auszubrennen.

Gelassenen Umgang - auch mit eigenen Fehlern - lernen

Für deren steigende Anzahl mögen viele Gründe mitverantwortlich sein: der steigende Leistungsdruck im Berufsleben, der stetige Ruf nach mehr Effizienz und strafferer Organisation oder die Doktrin der ständigen Erreichbarkeit. Vor allem aber ist ein oft erschreckendes Hinnehmen von als gegeben behaupteten Strukturen und Mustern zu erkennen. Niemand kann auf Dauer alle Aufgaben immer noch besser, noch schneller und noch gewinnbringender erledigen, ohne dabei sich selbst und/oder andere auszubeuten. Erfolgreiche juristische Arbeit verlangt - nicht nur, aber vor allem - Kreativität. Und die entsteht immer noch am ehesten in einem Zustand der Ausgeglichenheit, um nicht zu sagen im Müßiggang. Sich dessen bewusst zu werden, sich nicht regelmäßig nach Erreichtem weiter antreiben zu lassen und rast- und ziellos vorwärts zu streben, das erfordert einen selbstbewussten, achtsamen und verantwortungsvollen Umgang mit den eigenen Ressourcen - und schließlich einen gelassenen Umgang mit Fehlern und die Fähigkeit, voller Zuversicht aus ihnen zu lernen. (Ronald Frühwirth, derStandard.at, 29.11.2011)