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Der britische Regisseur Ken Russell mit seiner Darstellerin Twiggy am Set des Musicals von "The Boy Friend".

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London - Im britischen Nachkriegskino blieb Ken Russell der schillernde Exot. Während wesentliche Vertreter seiner Regisseursgeneration neue Zugänge zu einer wirklichkeitsnahen Filmkunst suchten, setzte er auf die Kraft von Montagen, in denen Pole funkensprühend zusammenstießen: Die Symbiose von Populärkultur und Klassik war für ihn eine Kleinigkeit. "Realität", sagte Russell einmal, "ist ein schmutziges Wort. Kein Interesse! Darüber wird ohnehin zu viel Aufhebens gemacht."

1927 in Southampton als Sohn eines Schuhmachers geboren, floh Russell schon als Kind am liebsten ins Kino. Nach produktiven Jahren als BBC-Dokumentarist (Schwerpunkt: Tanz und Musik) gelang ihm mit der D.H. -Lawrence-Adaption Women in Love (1969), für den Glenda Jackson mit einem Oscar ausgezeichnet wurde, der Durchbruch. In der berühmtesten Szene des Film raufen Alan Bates und Oliver Reed splitternackt vor flackerndem Kaminfeuer - es war nicht der einzige Frontalangriff auf die britische Zugeschnürtheit jener Tage.

Orgien und Zensur

Mit seinen freizügigen, üppig orchestrierten Filmen traf Russell den Geschmack der Zeit, ohne ganz modern zu sein. In seinem Tschaikowski-Bio-Pic The Music Lovers (1970) mit Richard Chamberlain war das homosexuelle Begehren des Musikers dessen Quelle der Kreativität; das religiöse Historiendrama The Devils (u. a. nach Aldous Huxley) wurde aufgrund seiner anstößigen Bilder - etwa einer Orgienszene unter Ursulinen-Nonnen - oft nur in verstümmelten Versionen gezeigt. Doch Russell beharrte darauf, dass sein Film von der Herabsetzung religiöser Prinzipien handle.

Musik blieb das bestimmende Moment seiner Karriere: Nach dem bunten Twiggy-Musical The Boy Friend und Mahler fertigte der Brite mit der The-Who-Rockoper Tommy einen zeitgenössischen Musikfilm, Roger Daltrey spielte dann auch in seinem Proto-Popstar-Porträt Lisztomania.

In den 1980er-Jahren versuchte sich Russell noch einmal in einer Neuerfindung und drehte mit Altered States (Der Höllentrip) seinen ersten Sciencefiction-Film, ein psychedelisches Drama, dessen fantastische Passagen auch religiöse Symbolik einarbeiteten. Doch das Hollywood-Gastspiel währte nur kurz, Russell galt für das US-Studiosystem als zu exzentrisch und kam schließlich zurück nach Europa, um Opern zu inszenieren.

Zum Kino kehrte Russell bis zu Beginn der 1990er-Jahre auch öfters zurück - 1989 drehte er mit The Rainbow etwa einen weiteren D.H. -Lawrence-Film mit Glenda Jackson. Danach fiel es ihm zunehmend schwerer, seine Projekte zu finanzieren. Der Öffentlichkeit blieb er durch mediale Auftritte erhalten, etwa auch in einem Big Brother für Prominente, aus dem er nach vier Tagen wieder floh. Am Sonntag ist Ken Russell 84-jährig im Schlaf gestorben. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD - Printausgabe, 29. November 2011)