Karlsson fordert ein Umdenken im Umgang mit Kindern: "Ich frage mich, was im Kopf eines Lehrergewerkschafters vorgeht, wenn er von Durchgriffsrecht gegen undisziplinierte Kinder spricht."

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Standard: Sie haben 1974 einen Bericht über Missstände in städtischen Kinderheimen erstellt. Schließen Sie aus, dass es heute in Institutionen Übergriffe gibt?

Karlsson: Solche systematisch über Jahre gehende Übergriffe gibt es, so glaube ich, nicht mehr. Andererseits gibt es noch immer Institutionen, wo schwere Übergriffe möglich wären. Also geschlossene Internate zum Beispiel. Darum muss man immer schauen, dass solche Einrichtungen offen sind, dass das Kind viele Bezugspersonen hat. Was mir derzeit viel mehr Sorgen macht, ist der oberösterreichische Fall, wo ein Schuldirektor einen Siebenjährigen geschlagen haben soll. Indirekt gibt er es zu, die Republik sagt hingegen, das Kind ist schuld, es hätte provoziert. Und es gibt keinen Aufschrei gegen eine derartige Auffassung von professioneller Pädagogik.

Standard: Laut Zahlen des Netzwerks Kinderrechte finden in Österreich 68 Prozent die "g'sunde Watsch'n" in Ordnung, in Schweden nur 18 Prozent. Was ist das? Woran liegt das? Ist das Tradition?

Karlsson: Wir haben eine sehr kurze demokratische Tradition - unterbrochen von zwei Diktaturen. Nach dem Ersten Weltkrieg hat man im roten Wien eine Glöckel'sche Schulreform versucht. Diese Revolution im Denken hat es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben. Es gab nie eine Aufarbeitung des faschistischen Erziehungsideals. Jetzt sehen wir die Folgen.

Standard: Sie haben in Ihrer Studie 14 von 34 Kinderheimen als Kindergefängnisse qualifiziert. Gab es vorher Gerüchte, dass es Kindern in städtischen Heimen schlecht ergeht?

Karlsson: Ja, darum wurde die Heimkommission ins Leben gerufen, die dann 1971 einen hübschen Katalog über bessere Ausbildung, Öffnung der Heime, Erziehung zur Selbstverantwortung der Kinder erarbeitet hat. Meine Idee war, in den Heimen zu schauen, wie viel umgesetzt worden ist. Diese Studie wurde dann veröffentlicht. Das ist dem Mut des damaligen Leiters des Instituts für Stadtforschung zu verdanken.

Standard: Haben Sie Schwierigkeiten wegen der Studie gekriegt?

Karlsson: Im Vergleich zu dem, was den Opfern in den Heimen passiert ist, war es ein Klacks. Drohbriefe mit Hinweis auf die Amtsverschwiegenheit, Verweigerung einer Dienstbeschreibung zu meiner Gehaltsvorrückung als Beamtin. Unangenehm, aber nicht lebenszerstörend wie die Methoden in den Heimen.

Standard: Elfriede Jelinek hat im "Falter" berichtet, wie man sie als Fünfjährige im St.-Anna-Kinderspital seelisch misshandelt hat. Erst kirchliche Heime, dann städtische, jetzt Spitäler. Was kommt als Nächstes?

Karlsson: Der Schulbereich ist überhaupt noch nicht aufgearbeitet. Die Lehrer haben einfach geprügelt - und denen ist nichts passiert. Darum bewegt mich auch die Geschichte in Oberösterreich so. Dort wurde der Lehrer einfach in Pension geschickt.

Standard: Ute Bock hat erzählt, dass im Heim in Biedermannsdorf, in dem sie als Erzieherin war, in den 1960er-Jahren Nazis gearbeitet haben. Sie sprachen nur von einer "Ausbildung der Erzieher im Nazi-Geist". Was stimmt?

Karlsson: Das muss man in Altersgenerationen sehen. Mir wurde ja auch immer vorgeworfen, dass es 1974 keine Nazis mehr gegeben habe. Aber 50-Jährige, die damals in einem Heim gearbeitet haben, sind vom Naziregime ausgebildet worden, das ihnen Gehorsam und Disziplin eingetrichtert hat.

Standard: Befürchten Sie, dass die Opfer im Zuge der Aufarbeitung ein weiteres Mal traumatisiert werden?

Karlsson: Diejenigen, die sich öffentlich geäußert haben und zu denen ich Kontakt hatte, sind sehr starke Menschen. Die sind schon durch alle Arten von Anschuldigungen und Verdächtigungen gegangen. Schlimm sind die Aufspürer, die im medialen Wettkampf um den schlimmsten Fall stehen. Da können Opfer reintaumeln, die das nicht durchstehen.

Standard: Sind Sie für eine Verlängerung der Verjährungsfrist?

Karlsson: Es gehört alles aufgearbeitet. Der Wilhelminenberg ist nur die Spitze eines Eisbergs. Aber auf Teufel komm raus das Strafmaß zu erhöhen wäre gegen meine rechtspolitische Haltung. Wenn ein Opfer einen Strafprozess will, muss der auch Aussicht auf Erfolg haben. Da darf Verjährung keine Rolle spielen.

Standard: Sollte es Änderungen beim Schadenersatz geben?

Karlsson: Ja, das würde nämlich den Opfern etwas bringen.

Standard: Ging Gewalt in Heimen immer auch mit sexuellen Übergriffen einher?

Karlsson: Nein. Die hat nur immer die Spießer in ihrer Morgenzeitung am meisten aufgegeilt. Die anderen Formen von Gewalt interessieren schon viel weniger. Etwa, dass Kinder aufspringen mussten, sobald ein Erwachsener den Raum betritt. Oder dass vor dem Kind abschätzig über dessen Eltern geredet wurde. Das waren Demütigungsrituale, die kaum jemand als Unrecht empfand. Bei der sexuellen Gewalt dagegen war auch damals allen bewusst, dass sie Unrecht tun.

Standard: Sie haben stets kritisiert, dass die Reformen viel zu lange gedauert haben. Woran lag das?

Karlsson: Die Leute waren alle Beamte. Zum Beispiel gab es im Heim in Eggenburg einen äußerst problematischen Erzieher. Eine Suspendierung wurde mit dem Argument abgelehnt, er habe gerade begonnen, ein Haus zu bauen und habe Kinder.

Standard: Hat sich da etwas im Umgang mit Kindern gesellschaftlich so entwickelt, wie Sie es sich 1974 gewünscht hätten?

Karlsson: Eine Zeitlang waren wir optimistisch. Aber wenn man heute Bilder aus Schulen sieht, dann sieht man immer noch wie in der Monarchie die Bankreihen und den Frontalunterricht. Das ist Zurichtungspädagogik. Und ich frage mich, was im Kopf eines Lehrergewerkschafters vorgeht, wenn er von "Durchgriffsrecht" gegen undisziplinierte Kinder spricht.

Standard: Glauben Sie, dass Schadenersatz-Geld den Opfern die gewünschte Genugtuung bringt?

Karlsson: Geld allein nicht, aber es kann Therapie ermöglichen, es zeigt Respekt. Der kann auch anders ausgedrückt werden: In Schweden gab es einen Staatsakt wegen Gewalt in Kinderheimen. Die Zeremonie fand in dem Saal statt, in dem die Nobelpreise vergeben werden. Die Königin, Minister und der Parlamentspräsident waren anwesend. Letzterer hat gesagt, "die schwedische Gesellschaft entschuldigt sich". Es wäre schön, wenn auch die österreichische Kirchen- und Staatsspitze etwas Ähnliches arrangieren könnte. (Petra Stuiber/Bettina Fernsebner-Kokert/DER STANDARD, Printausgabe, 26./27.11.2011)