Schriftsteller von Weltrang, Erotiker, Arzt und integre Persönlichkeit: Arthur Schnitzler.

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Bisher unveröffentlichtes Notizbuch, in dem Arthur Schnitzler Stoffeinfälle festhielt. Die unteren vier Zeilen rechts beziehen sich beispielsweise auf "Anatol": "Anatol zeigt Max einen Brief von Annie, hat aber ein Rendezvous mit der alten Bertha, die damals so jung war wie heute Annie."

Foto: Fliedl / Cambridge University Library

Die letzte Seite des Schnitzler-Manuskripts zu "Lieutenant Gustl", signiert und datiert mit 19. Juli 1900 in Reichenau und dem berühmten Schlusssatz "(Dich hau' ich) zu Krenfleisch!"

Foto: Fliedl / Cambridge University Library

Postkarte, die Schnitzler selbst von seinem Haus in der Sternwartestraße 71 anfertigen ließ. Er hat sie mit dem Satz "My house is my Nachtkastl" in einer Klammer versehen. Zu sehen ist auch der Vorbau mit dem Gartenzimmer, in dem der Nachlass lag.

Foto: Fliedl / Cambridge University Library

Am 26. Juli 1928 nahm sich seine achtzehnjährige Tochter Lili, seit einem Jahr mit dem italienischen Hauptmann Arnoldo Capellini in Venedig verheiratet, das Leben. Danach begann Arthur Schnitzler, dessen größte Erfolge hinter ihm lagen, zu resignieren. Am 3. Oktober 1929 notierte er in sein Tagebuch: "Mit jenem Julitag war mein Leben doch zu Ende." Zwei Uraufführungen wie Jahre später, am 21. Oktober 1931, also vor 80 Jahren, starb der Schriftsteller und Dramatiker nach einer Gehirnblutung in Wien.

Seine gesamten literarischen Materialien hinterließ er, abgesehen von den in einem Banksafe deponierten Tagebüchern, im Arbeitszimmer seines Hauses in der Sternwartestraße 71: unzählige Blätter und Notizen zu veröffentlichten Werken, aber auch unveröffentlichte Manuskripte, eine umfangreiche Sammlung von Zeitungsausschnitten sowie jede Menge Briefe an ihn und von ihm. Er selbst war es, der das monströse Konvolut sortiert, umsortiert und in 257 nummerierte Mappen einordnet hatte. Aber dort, im Arbeitszimmer, blieb es nicht: Die Familie schaffte den Nachlass ins Gartenzimmer, einen ebenerdigen Vorbau, wo das Material einzelnen Literaturwissenschaftern zugängig gemacht wurde.

1938 weilte Eric A. Blackall, ein Student aus Cambridge, in Wien, um bei Josef Nadler, Mitglied der NSDAP und Erfinder der stammesgeschichtlichen Literaturgeschichtsschreibung, über Adalbert Stifter zu dissertieren. Er interessierte sich aber auch für jüngere österreichische Autoren - und erhielt von der Familie Schnitzler die Erlaubnis, den Nachlass durchsehen zu dürfen. Als Mitte März die deutsche Wehrmacht einmarschierte, befand sich die Familie, so die Schnitzler-Forscherin Konstanze Fliedl, "in einer Art Schreckstarre. Sie unternahm nichts".

Blackall hingegen reagierte sogleich: Er lief zu seiner Botschaft, und die Briten kamen der Bitte, das Gartenzimmer zu versiegeln, nach. Dieses war somit exterritoriales Gebiet des Königreichs, was selbst die Gestapo, die mehrere Hausdurchsuchungen vornahm, respektierte. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion gelang es Blackall zudem, dass der Großteil des Nachlasses nach Cambridge verschifft und der dortigen University Library überantwortet wurde.

Dort befindet sich dieser noch heute. Und bis heute wurde er nicht systematisch aufgearbeitet. Denn er ist, so Fliedl, "ein riesenumfangreiches Ding", er besteht einer groben Schätzung zufolge aus zumindest 40.000 Seiten. Fliedl war mehrfach in Cambridge, einmal verbrachte sie ein Jahr dort - und sie hat noch immer nicht alles gesehen.

Undeutliche Schriftkontur

Zu Arthur Schnitzler kam die Wiener Germanistin eher durch Zufall: "1979, als ich noch studierte, hat die Edition des Schnitzler-Tagebuchs begonnen. Das war ein Projekt der Akademie der Wissenschaften unter der Leitung meines Doktor- und später Habilitationsvaters Werner Welzig. Der erste Band erschien 1981, abgeschlossen wurde das Projekt 2001. Auch wenn ich nur die ersten eineinhalb Jahre mitgearbeitet habe, war das für mich der Einstieg in die Schnitzler-Forschung. Wir haben damals noch Heinrich Schnitzler, den Sohn von Arthur Schnitzler, kennengelernt, der 1981 starb. Eingelesen wurden wir von ei- ner Freundin Heinrich Schnitzlers, einer alten Dame, die sich sehr gut auf Arthur Schnitzlers Handschrift verstanden hat. Man braucht ja zumindest drei Monate, bis man Schnitzler relativ flüssig lesen kann. Entzifferungsprobleme gibt es trotzdem ständig."

Denn die Manuskripte sind in der Regel mit weichem Bleistift auf jetzt schon vergilbtes Papier geschrieben. Es wird also immer schwieriger, die undeutliche Schriftkontur zu dechiffrieren. Zudem hatte Schnitzler eine furchtbare Handschrift: Er ließ Buchstaben quasistenografisch in den nachfolgenden Grafemen aufgehen, er verschliff andauernd die Endungen. Ein schwungvoller Auslaufbogen kann nun "-ung" oder "-ing" heißen oder "-en" oder "-er" oder irgendetwas anderes. Und auch der Schriftwechsel von Kurrent zu Latein im Jahr 1917 trug nicht gerade zur Lesbarkeit bei.

Schrieb er derart schlampig, weil er, wie sein Vater, Arzt war? Hatte er also einfach eine typische Ärztehandschrift? Oder ließen ihn seine amourösen Abenteuer und das gesellschaftliche Leben keine Zeit? Fliedl widerspricht. Denn Schnitzler praktizierte nur wenige Jahre. "Er hatte zwar eine Ordination in der Frankgasse 1 hinter der Votivkirche, aber diese diente eher für erotische Begegnungen. Und nach dem Tod seines Vaters 1893 war Schnitzler vor allem freier Schriftsteller: Die Handschrift ist einfach so - unabhängig von seinem Medizinertum. Auch war das Schreiben kein eiliger Vorgang. Bei ihm gibt es einen Arbeitsvorgang, der "Feile" heißt. Das Wort kommt immer wieder im Tagebuch vor, und für das Feilen hat er sich sehr viel Zeit genommen. Er hat eifrig herumgestrichen und überschrieben, die Texte immer wieder redigiert."

Ab 1904 beschäftigte Schnitzler Sekretärinnen, die seine Manuskripte abtippten. Aus den späteren Jahren gibt es aber kaum Handschriften, weil er direkt in die Maschine diktierte und das Typoskript dann zahlreiche Male korrigierte. "Diese Arbeitsweise hat er wohl auch deshalb gewählt, weil er seine Schrift manchmal selber nicht mehr lesen konnte", meint Fliedl. "Und die Sekretärinnen haben sich auch oft geirrt."

Dennoch hat die Germanistin an der Universität Wien, nebenbei Präsidentin der Arthur-Schnitzler-Gesellschaft, ein wahnwitzig anmutendes Editionsprojekt in Angriff genommen. Als erstes Ergebnis erschien kürzlich bei De Gruyter Lieutenant Gustl in einer historisch-kritischen Ausgabe. Die Novelle, geschrieben in Reichenau binnen einer Woche Mitte Juli 1900, war, wie Fliedl meint, "ein Geniestreich". Denn es handelt sich um einen durchgehenden inneren Monolog - erstmals in der deutschsprachigen Literatur und 18 Jahre vor dem Erscheinen der ersten Teile des Ulysses von James Joyce.

Konstanze Fliedl veröffentlicht in ihrem großformatigen Prachtband die komplette Handschrift als Faksimile und stellt jeder einzelnen Seite ihre Transkription samt allen Streichungen, Ergänzungen, Überschreibungen gegenüber. Im Vergleich mit der kommentierten Druckfassung entdeckte sie eine Menge stilistischer wie inhaltlicher Änderungen: "Schnitzler lässt den Gustl im Manuskript viel antisemitischer und frauenfeindlicher sein als in der Druckfassung. Er hat also die Kritik an der Figur zurückgefahren."

Auch in anderen Texten sei dieses Abschwächen bemerkbar: "In der frühen Erzählung Frau Beate und ihr Sohn beispielsweise geht es um angedeuteten Mutter-Sohn-Inzest, was Zeitgenossen sehr entrüstet kommentierten. Und auch in diesem Fall ist das Manuskript sehr viel deutlicher. Man kann sagen, dass die Manuskriptfassungen sehr oft expliziter sind hinsichtlich aggressiver oder libidinöser Strebungen der Figuren."

Was genau zwischen der Manuskript- und der Druckfassung passiert ist, weiß man nicht: "Es muss offensichtlich eine Abschrift gegeben haben oder ein Typoskript, aber der Fischer-Verlag hat, bis auf ganz wenige Ausnahmen, kein Material mehr." Da Austriazismen wie "Feber" eliminiert wurden, könne man, so Fliedl, nicht ausschließen, dass die Lektoren beim Lieutenant Gustl auch Streichungen vorgenommen haben. Im Drucktext fehlt zum Beispiel der Einschub "solls der Jude hinausfeuern meinetwegen". Bei Frau Beate und ihr Sohn hingegen gibt es Entwurfsstufen. "Daher wissen wir, dass Arthur Schnitzler selber die Abschwächungen vorgenommen hat."

Frau Beate und ihr Sohn und weitere frühe Erzählungen werden im Jahr 2013 veröffentlicht werden. Und bereits 2012, anlässlich des Jubiläumsjahres (Schnitzler wurde am 15. Mai 1862 geboren), erscheinen gleich drei Bände: Anatol enthält die Faksimiles der Manuskripte zu den sieben Einaktern, die Schnitzlers Ruhm begründeten, in der Reihenfolge ihres Entstehens, danach folgen Sterben und Liebelei. Bei Lieutenant Gustl firmiert Konstanze Fliedl als alleinige Herausgeberin, an den weiteren Bänden arbeiten Peter Michael Braunwarth, Evelyne Polt-Heinzl, Gerhard Hubmann und Isabella Schwentner. Das vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) finanzierte Projekt "Schnitzlers Frühwerk" läuft bis 2013.

Fliedl hofft natürlich auf Fortsetzung. Die Nachlasssituation sei aber extrem unübersichtlich, sagt sie. Denn Schnitzler schenkte gelegentlich Manuskripte her - oder er verlieh sie, ohne sie je wieder zurückzubekommen. Auch sein Sohn Heinrich Schnitzler habe das gemacht.

"Bei manchen Texten wissen wir, dass es noch etwas gegeben haben muss, aber es ist leider nicht mehr vorhanden. Und es gibt eine Katalogisierung, aus der man kaum klug werden kann", erklärt Fliedl. "Denn nicht nur Schnitzler hat die Mappen nummeriert und beschriftet: Marbach, wo sich der Privatnachlass befindet, und Cambridge haben eigene Archivierungssysteme. Außerdem sind die Inhalte der Mappen manchmal durcheinandergeraten. Es gibt zum Beispiel große Konvolute zu einem bestimmten Titel, und in diesem finden Sie dann durch Zufall Notizen zu anderen Titeln. Der Nachlass ist ein wirkliches Labyrinth!"

Zudem käme man, so Fliedl, bei der Herausgabe der Korrespondenz in extreme Schwierigkeiten: "Im deutschen Literaturarchiv in Marbach befindet sich zwar das große Briefkonvolut, aber Schnitzler-Briefe können Sie in allen möglichen Nachlässen auf der ganzen Welt finden. Die Briefpartner mussten nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten emigrieren, oder sie wurden deportiert. Manche Briefe sind daher in Jerusalem und Tel Aviv, manche in der Schweiz oder anderswo."

All das verstreute Material zusammenzusuchen wäre ob des enormen Zeitaufwandes kaum finanzierbar, sagt Fliedl. "Aber es wäre schön, wenn zumindest alle zu Schnitzlers Lebzeiten publizierten Werke ediert werden könnten."

Denn das Copyright endete 2001, 70 Jahre nach Schnitzlers Tod. Seither kann jeder Verlag die Erzählungen und Dramen nachdrucken. "Praktisch alle im Buchhandel erhältlichen Texte folgen der letzten Fischer-Taschenbuchausgabe, der sogenannten 'revidierten' Ausgabe von 1990. Und die ist unheimlich korrupt. Man muss das wirklich so sagen."

Fliedl nahm einmal einen Textvergleich mit der Erstausgabe des Romans Der Weg ins Freie vor: "Mir fielen hunderte Fehler auf, darunter vollkommen sinnentstellende. Es taucht zum Beispiel ein junges jüdisches Mädchen aus der Großbourgeoisie auf. In der Erstausgabe heißt es, ihr Männlichkeitsideal sei eine Mischung aus ,Herrenreiter und Ästheten'. Und in den derzeit erhältlichen Ausgaben lesen Sie: ,Herrenreiter und Athleten'. Da hat also jemand die Frakturschrift nicht lesen können! Oder statt ,Musik' steht 'Mystik' und so weiter. Allein schon diese Fehler sind ein Argument dafür, dass es eine kritische Ausgabe der veröffentlichten Werke geben muss."

Zumal Schnitzler nach wie vor ein unheimlich aktueller Autor ist. "In Professor Bernhardi wird einem vor Augen geführt, wie Mobbing funktioniert. Die dramaturgischen Lösungen sind oft verblüffend. Und Schnitzler war ein scharfsinniger Beobachter der politischen Situation. Der Roman Der Weg ins Freie zum Beispiel bietet eine Einsicht in den Habitus von Politikern. Wie Populismus funktioniert: Das kann man daraus lernen! Und Schnitzler war ein sehr integrer Mensch. Das Klischee des Erotikers verdeckt das ein wenig. Aber er hat sich nie angebiedert, er war kompromisslos", sagt Konstanze Fliedl.

Anders als Hugo von Hofmannsthal oder Robert Musil hätte er sich auch nie für eine Kriegspublikation hergegeben. Dafür sei er selbst von Karl Kraus, mit dem er eigentlich kein gutes Verhältnis hatte, gelobt worden. "Schnitzler arbeitete in jenen Jahren an einem Essay, der erst aus dem Nachlass publiziert wurde. Und einmal wird der Friede wiederkommen ist ein wirklich beeindruckendes Dokument von jemandem, der sich von der Kriegseuphorie nicht anstecken ließ - und von der ersten Stunde an begriff, wohin der Weltkrieg führen wird."

Des Weiteren sei Schnitzler sehr loyal gegenüber dem Judentum gewesen, obwohl er weder gläubig noch Zionist war: "Schnitzler hat sich als deutschsprachiger Schriftsteller verstanden", erklärt Fliedl. "Er meinte, er habe nicht einmal eine Beziehung zu Ungarn, woher seine Familie kam; er könne daher Palästina nicht als Heimat empfinden. Das Verhältnis zu Theodor Herzl war sehr gespannt. Dennoch unterstützte er in den 1920er-Jahren, das weiß man aus den Tagebüchern, jüdische Organisationen - und viele notleidende Juden."

Hochinteressant wäre es daher, meint Fliedl, die Schnitzler-Reihe um einen Band mit bisher unveröffentlichten Jugendwerken zu ergänzen - aber nicht, weil Sensationen zu erwarten seien: "Ein neuer Schnitzler ist im Nachlass nicht zu entdecken." Aufgrund der Texte, die er als Schü- ler und Student schrieb, hätte man nicht annehmen können, dass Schnitzler tatsächlich eine Schriftstellerkarriere einschlagen würde. Denn sie seien qualitativ ziemlich schlecht, was Schnitzler auch in seiner Autobiografie einbekennt. "Es gibt zum Beispiel Versdramen, in denen er mit dem fünfhebigen Jambus herumexperimentiert. Er hat sich aus dem ganzen Ballast des 19. Jahrhunderts, aus der epigonalen Naturlyrik, aus der Heine-Nachfolge herausschreiben müssen." Aber genau das sei das Spannende, sagt Fliedl: "Die Entwicklung Schnitzlers zum Autor von Weltrang kann man an diesen frühen Texten sehr schön nachvollziehen." (Thomas Trenkler, DER STANDARD - Printausgabe, 26./27. November 2011)