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Nicht jeder Notfall ist ein Notfall: Die Notfallambulanz ist Leidtragender eines Strukturproblems der Stadt Wien. Zu wenige praktische Ärzte haben am Wochenende oder abends geöffnet.

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Philip Eisenburger ist Internist und Notfallmediziner. Nach seinem 24 Stunden Wochenenddienst ist er "streichfähig". Unter der Woche dauert sein Bereitschaftdienst 36 Stunden.

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Blutabnahmen gehören zu den Routineprozeduren auf der Notfallambulanz.

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"Wir rennen nur selten", sagt Eisenburger. Ein Herzalarm gehört zu den Ausnahmen, da zählt jede Sekunde.

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Eisenburger muss telefonieren. Er sucht einen Nackten. Ein Junkie mit Kopfwunde ist offenbar im Rausch in eine fremde Wohnung gelaufen. Dort wollte er sich auf ein Sofa legen. Die Bewohner alarmierten die Polizei. Sie erfahren, dass der Eindringling Hepatitis C haben soll. Die Wohnungsinhaber, ein etwa 18-Jähriger Bursche und sein Großvater, sitzen daher jetzt Oberarzt Philip Eisenburger gegenüber. Der junge Mann hat Angst, sich beim Versuch, den Junkie mit dem Gehstock seines Großvaters zu vertreiben, infiziert zu haben. Was er noch nicht weiß, gegen Hepatitis C kann man nicht impfen.

Eisenburger ist Internist in der Notfallambulanz im Wiener Allgemeinen Krankenhaus (AKH). Heute hat er Nachtdienst, um acht Uhr Früh hat er zu arbeiten begonnen, 24 Stunden wird er bleiben. Das AKH ist das zweitgrößte Spital der Welt, 1.500 Ärzte arbeiten hier auf einer Fläche von rund 50 Fußballfeldern. In den vergangenen Wochen hat die Uniklinik mehrfach für Schlagzeilen gesorgt. Hintergrund ist ein seit Jahren schwelender Konflikt zwischen Bund und Stadt Wien um die Bezahlung der Ärzte. Ob das Spital seinen laufenden Betrieb aufrechterhalten kann, ist unklar. Ab Februar wird es um 14 Prozent weniger Nachtdienste  geben, freie Stellen werden nicht mehr nachbesetzt. Derzeit arbeiten 172 Ärzte jede Nacht, künftig sollen es 146 sein.

Patienten im Viertelstundentakt

Nicht jeder Notfall ist ein Notfall. Es kommt der Mann mit Atembeschwerden und Schmerzen in der Brust, der dagegen die Herzmedikamente eines Freundes genommen hat, die junge Frau mit Bauchschmerzen, die vermutet, eine Blinddarmentzündung zu haben oder auch der Mann, der keine Luft zu bekommen glaubt. Er ist weiß im Gesicht, sich zu bewegen, kostet ihn offenbar große Anstrengung. Er wird die Nacht im Spital verbringen. Wenn jemand instabil ist, sei das üblicherweise sofort erkennbar, erklärt Eisenburger. Viele glauben einen Herzinfarkt zu bekommen, die wenigsten haben ihn. "Schau ma mal" sagt dann der Internist, während er die weißen Latexhandschuhe überstreift, die Patienten abhört und die Nadel zur Blutabnahme vorbereitet. "Schau ma mal" wird er heute noch oft sagen. Zum Patienten, über Patienten und über den Verlauf des Dienstes.

Im Viertelstundentakt ruft Eisenburger die Patienten auf, für Müdigkeit bleibt auch nach neun Stunden Dienst keine Zeit. Routiniert, aber nicht desinteressiert widmet er sich den Patienten. Der Notfallmediziner ist groß und drahtig, um sich fit zu halten radelt er täglich über den Wilheminenberg zum AKH. Der lange Nachtdienst ist ihm kaum anzumerken, nur selten gönnt er sich ein Gähnen, einzig seine Gesichtsfarbe wird mit der Zeit blasser und ab und zu fährt er sich durch das schüttere Haar. Eisenburger ist leidenschaftlicher Arzt. Man könnte sich vorstellen, dass er schon mit der kleinen Drahtbrille und dem weißen Kittel auf die Welt gekommen ist.  Doch es gibt auch Patienten, die dem Mediziner das Leben schwer machen, die tagelang Zeit haben zum Hausarzt zu gehen, aber am Wochenende im Warteraum sitzen. "Was haben Sie denn für einen Notfall", sagt er dann zur Begrüßung.

Kombination aus Ambulanz und Intensivbereich

Der Patientenansturm ist das größte Problem in der Notfallambulanz. Das AKH nimmt eine wichtige Rolle in der Gesundheitsversorgung der Stadt Wien ein. Es gibt zu wenige praktische Ärzte, die am Wochenende oder abends geöffnet haben. Außerdem hat das AKH eine eigene U-Bahn-Station.

Vieles ist Routine. Es gibt aber Ausnahmen, Notfälle, die für die Notfallmediziner schwer zu verarbeiten seien, erzählt Eisenburger. Vor einigen Wochen wurde eine mit Zwillingen schwangere Frau eingeliefert, die einen Herzstillstand erlitten hatte. Ein Kaiserschnitt während der Reanimation konnte ein Kind retten. Die Mutter starb wenig später an einer Hirnblutung. Fälle wie dieser kommen immer ins AKH. Dazu hat die Notfallambulanz einen Akutbehandlungsraum. Die Kombination von Ambulanz und Intensivbereich ist nicht üblich. Für die Ärzte ist sie ein Vorteil: "Man bekommt ein gutes Gespür, wer wirklich bedient ist", sagt Eisenburger.

89.000 Patienten jährlich

Eine Herzinfarktpatientin wird aus einem anderen Spital überstellt. "Verdacht auf Herzwandruptur" steht auf dem Befund. Die Schwestern verkabeln die Frau, in ihre Maske murmelt sie: "Sterben will ich aber noch nicht". "Das haben wir auch nicht vor", entgegnet Schwester Eva, während sie Venenkatheter und Verbände prüft. Licht aus, Herzultraschall an. Der Fall ist weniger dramatisch als angekündigt. Die Patientin beschwert sich, die Maske sitze unangenehm, die Blutabnahme schmerze. "Wenn sie noch keppeln können, geht es ihnen gut", sagt die Schwester lächelnd.

Im Aufenthaltsraum stehen Cola-Flaschen, Red Bull und Kaffee auf dem Tisch. In den raren Pausen wird gegessen, geplaudert, "Herr Karl" thematisiert und George gehuldigt. George heißt die beeindruckend große Nespresso-Kaffeemaschine, ein Poster mit dem Schauspieler George Clooney hängt dahinter. Der Aufenthaltsraum ist während des Dienstes die einzige Möglichkeit, ans Tageslicht zu gelangen. Die Architektur des Krankenhauses fällt unter pragmatischen Nutzbau, intern wird das AKH "Bunker" genannt. Selbst die Funkuhr im Akutbehandlungsraum muss immer wieder zu einem Fenster getragen werden, damit sie ein Signal empfangen kann und die richtige Uhrzeit anzeigt.

Herzalarm

Die Notfallambulanz ist der Filter für das gesamte Krankenhaus. Von 89.000 Patienten, die jährlich im Warteraum der Ambulanz sitzen, werden 8,7 Prozent stationär aufgenommen. Nur die wenigsten bleiben, sie werden auf die Fachstationen weiter überwiesen. 

Ein lautes, konstantes  Geräusch dröhnt durch die Gänge. Herzalarm auf Ebene 8. Drei Ärzte springen auf, jeder greift im Laufschritt einen Koffer: Notfallkoffer, Sauerstoff und transportables EKG müssen mit. Gemeinsam mit zwei Schwestern sprinten sie durch das Stiegenhaus. Ein Schritt, drei Stufen. In wenigen Augenblicken haben sie die Patientin erreicht. Die junge Frau ist ansprechbar, sie hatte eine Panikattacke während einer Magnetresonanz erlitten.

Kein Einsparungspotenzial

Wer dennoch glaubt, Notfallmediziner stehen ständig unter Adrenalin, kennt Philip Eisenburger nicht. "Wir rennen nur selten", erklärt der Internist. Ein Herzalarm oder ein Riss der Hauptschlagader sind Ausnahmen, da zählt jede Sekunde. 

Gegen zwei Uhr Früh ist der größte Patientenansturm bewältigt. Wenn er Glück hat, kann Eisenburger zwei, drei Stunden schlafen. Am nächsten Tag um acht ist nach 24 Stunden sein Dienst zu Ende. Die viel diskutierten 48 Stunden Wochenenddienste gibt es in der Notfallambulanz nicht. "Das dablas' ich nicht. Nach einem Nachtdienst bin ich streichfähig", sagt Eisenburger. Einsparungsmöglichkeiten sieht er auf seiner Station keine, auch keine Möglichkeit Nachtdienste zu streichen. Aber auch bei weiteren Personalkürzungen werden sie die Patienten nicht einfach nachhause schicken. Sie müssten dann halt "warten".

Das Telefon läutet. Die Suche nach dem nackten Junkie war erfolgreich, er wurde in ein anderes Wiener Spital eingeliefert. Eisenburger veranlasst einen Schnelltest. Wenige Stunden später kommt die Entwarnung, der Gesuchte hat weder Hepatitis, noch HIV, Großvater und Enkel können nach Hause gehen. (Marie-Theres Egyed, derStandard.at, 29.11.2011)