Geführte Reise: "The Trip" nennt sich ein von zwei Ausbildnern des Alpenvereins-Jugend-Backcountry-Sicherheitsprogrammes "Risk'n'Fun" gegründetes Reiseprojekt für Freerider (Snowboarder wie Skifahrer) an Destinationen abseits der allseits bekannten Tourenregionen. Mindestens ein Bergführer ist immer mit von der Partie. Im Vorjahr fand die Reise in die Hohe Tatra zum ersten Mal statt, Termin heuer ist Ende Februar. Achtung: Nichts für Anfänger! www.yellowtravel.net

Wenn die Schneesituation nicht optimal ist, raten slowakische Bergführer und Hoteliers ihren Tourengästen, in den polnischen Teil der Hohen Tatra zu fahren (Zakopane): Dort zeigen die Hänge nach Norden, sind also schneesicherer.

Foto: Thomas Rottenberg

Das Hotel Sorea Bane ist ein monströser Block in Strbske Pleso, einem Zentrum des slowakischen Ski- und Tatra-tourismus (drei Skilifte). Freilich: Wer es hochluxuriös (und zum Preis westlicher Luxushotels) schätzt, dem sei das am malerischen Bergsee gelegene Hotel Kempinski empfohlen: Das einstige Grand Hotel diente während des Kommunismus als Sanatorium und wurde dann teuer saniert. Das Haus zeigt, was auch bei Panhans & Co am Semmering möglich wäre - wenn Geld keine Rolle spielte. www.kempinski.com/hightatras. Vorsicht: Obwohl auch Zakopane, das Mekka der polnischen Skiszene (drei Lifte), sich selbst längst auch als Freeride-Region bewirbt, ist das Verlassen der Pisten streng verboten.

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Foto: Kempinski

Das Telefon stammte offensichtlich aus einer anderen Zeit: Das einst dunkelrote, über die Jahre zu Matt-Dunkelrosa ausgebleichte Kistchen auf dem bedrohlich dunklen Fake-Massivholznachtkästchen mit den abgerundeten Ecken später 70er-Jahre-Designstudien (Kästchen wie Kistchen) klingelt mit ratterndem Schnurren. So, als säße da jemand im Telefon, der Klingeln und Rasseln per Zahnrad bediente. Wie in jenen Spielzeugtelefonen, mit denen in diesem Jahrtausend geborene Kinder nichts mehr anzufangen wissen: Die Zimmertelefone im Hotel Sorea Bane im slowakischen Bergdorf Strbske Pleso haben Wählscheiben. Das ist bezeichnend.

Und gleichzeitig egal. Schon auf den ersten Blick. Denn der geht aus dem Fenster: auf das Panorama der Hänge und Gipfel der Hohen Tatra, des - wie es so schön heißt - "kleinsten Hochgebirges der Welt". Einen kaum höher als 2500 Meter hohen Gebirgsstock, den irgendjemand völlig unmotiviert in Ost-West-Ausrichtung in die weite, sonst kaum hügelige Ebene im Grenzgebiet zwischen der Slowakei und Polen gesetzt hat.

Doch die geringen Dimensionen trügen: Aufgrund ihrer Exponiertheit, herrschen in der Hohen Tatra hochalpine Wetter- und Klimabedingungen. Davon zeugen Berg- und Vegetationsformen ebenso wie die Schneeverhältnisse und die Vielfalt der möglichen Touren: Vom entspannten Skiwandern auf Forststraßen zu bewirtschafteten Hütten über Anstiege (und Abfahrten) durch dichten Wald zu schier unendlichen freien Hängen, breiten Flanken und weiten Kuppen reicht das Spektrum bis zu steilen, engen Rinnen, vereisten Wasserfällen (Umfahren oder Runterspringen?) und mitunter auch sehr anspruchsvollen, besser nicht ohne Steigeisen und Seil zu bewältigenden einsamen Kletterpartien und Gratwanderungen - mit Skiern und Board am Rücken: Vielfalt eben - auf ziemlich engem Raum.

Weites Land

Was am Berg ein wenig irritieren kann, ist da weniger die relative Einsamkeit als der Ausblick: Schweift der Blick von den schroffen, archaischen Strukturen und Formationen hinunter ins Tal und weiter ins Land, ist da nichts. Keine Berge - nur weites Land. Das ist auch das Geheimnis der Extreme in der Hohen Tatra. Wind und Wetter sammeln am flachen Land Kraft und Intensität - und knallen frontal mit ungebremster Wucht auf den Gebirgsstock. 2004 schlug hier ein Sturm in 30 Minuten eine 30 Kilometer lange, vier Kilometer breite Schneise in den Wald. Noch heute sieht es aus, als hätten Riesen Mikado gespielt.

Viele alte Häuser, teils Villen und Grandhotels ähnlich jenen am Semmering, wurden da beschädigt oder zerstört - die Protz-Beton-Architektur der KP-Zeit aber hielt. Und bildet heute das Rückgrat des slowakischen Wintertourismus: Ausstattung und Komfort von Hotels und Liftanlagen - sowie des Après-Ski-Irrsinns - können sich mit westlichen Standards zwar nicht messen. Noch nicht. Das Wahlscheiben- telefon passt gerade noch gut ins Bild: Es fällt auf - wird aber bald verschwunden sein.

Schließlich haben die meisten Wintersportler - Tourengeher längst nicht mehr ausgenommen - das Wettrüsten der Hoteliers und Liftanlagenbetreiber in den heimischen Alpen schon so verinnerlicht, dass ein Telefon, das tatsächlich "schellt", eine Attraktion ist. Und auf das einstimmt, was kommt: Skifahren "im Osten" ist immer noch anders. Auch im Gelände. Und dieses "anders" ist weder abschätzig noch negativ konnotiert.

Denn seit ein paar Jahren mausert sich die Hohe Tatra auch in der Touren- und Freeride-Community vom Supergeheim- zum bekannten Insidertipp. Der Trend zum Backcountry-Abenteuer stellt viele Tourengeher nämlich immer öfter vor ein Problem: In den Alpen wird es manchmal voll im Hinterland. Wer menschenleere Gipfel und jungfräuliche Hänge sucht, muss oft lange und weit gehen - und hat rasch eine Handvoll ahnungsloser Freeski-Wannabes im Heckwasser. Im freien Gelände potenziell lebensgefährlich.

Spuren im Schnee

Wer aber statt nach Westen gen Osten kurvt, hat derlei Probleme nicht: Natürlich gibt es auf den slowakischen Hängen der Tatra auch Spuren im Schnee. Doch hier ist Skitourengehen noch dort, wo es in Österreich vor zehn Jahren war: Abseits der Pisten zieht es nur wenige, dafür umso kernigere, konditionsstarke Touren- geher. Leute, denen Aufstieg und Gipfel wichtiger sind als coole "Rides", irre "Drop Ins" (Neusprech für "Einstieg in den Hang") und unverspurte Hänge ("First Lines").

Dementsprechend sind auch "Attitude" und "Outfit": klassisch, mit schmalen Skiern und enganliegender Kleidung. Snowboards, Helmkameras, überbreite Skier - die Attribute der "Jungen Wilden" aus den Freeski-Videos - fallen hier noch auf. Auch, weil es sie kaum gibt.

Das hat viele Vorteile. Denn auch die Forstaufsicht ist angesichts der überschaubaren Zahlen von Menschen im Gelände - noch - tolerant und lässt in der Regel jeden tun, was und wie es ihm gefällt. Denn ob das Tourengehen in der Hohen Tatra tatsächlich überall ganz legal ist, wissen auch lokale Hüttenbetreiber und Hoteliers nicht: Das ganze Gebiet ist Nationalpark.

Im Sommer achten Ranger streng darauf, dass niemand unerlaubt Wege verlässt oder ein Zelt aufstellt. Im Winter dagegen traut man den Alpinisten noch zu, die Natur mit Respekt zu behandeln: Der Ranger winkt freundlich - und warnt davor, am Parkplatz beim Schranken, der die Zufahrt verhindert, zu parken: Da könne man gleich Fenster und Türen des Fahrzeuges offenlassen. Sicherer sei es, im Ort zu parken - und mit dem Taxi anzureisen.

Freilich: Hoch über der Baumgrenze, drei Aufstiegsstunden vom Auto weg, ist der Nutzwert dieses Ratschlages enden wollend.

Doch angesichts des Panoramas, den über den Grat pfeifenden Wind im Rücken, die Sonne im Gesicht und die große, weiße Freiheit vor und dann über den Skispitzen, wird er ohnehin Makulatur (abgesehen davon, dass der Bus immer unversehrt war): Das wirklich Wertvolle liegt nicht unten im Tal, im Auto, sondern hier. Man kann es nicht stehlen. Aber teilen. (Thomas Rottenberg/DER STANDARD/Printausgabe/19.11.2011)