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Mubaraks Sturz hat die Gewalt nicht beendet: religiöse und politische Gruppen im Kampf, dazwischen die Polizei in undurchsichtigen Rollen.

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Behutsamer Röntgen-Check: ... alles gut verheilt ...

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... die Therapie hätte freilich intensiver sein können.

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Eine ägyptisch-österreichische Ärztekooperation versuchte in Kairo zu helfen.

Wer wissen will, wie sich die Menschen im neuen Ägypten fühlen, muss nur die Werbesprüche des großen Mobilfunkanbieters mobilnil am Flughafen Kairo lesen. Barack Obama wird da zitiert: "Wir müssen unsere Jugend erziehen, dass sie so wird wie Ägyptens Jugend." Oder, auch gut, Silvio Berlusconi: "Nichts Besonderes in Ägypten: Sie machen Geschichte, wie üblich." Die Werbung bringt's auf den Punkt. Das postrevolutionäre Ägypten klingt dieser Tage so – trotz aller Probleme, Zerfallserscheinungen, Zukunftsängste: stolz und selbstbewusst, ohne Hilfe von außen. Erwünscht wäre sie zwar durchaus – aber wenn sie ausbleibt: Das Volk ist stark, Allah ist groß, und hierzulande hat man schon ganz anderes geschafft.

Dieser Sound, in freundlich höflichen bis zuweilen schrofferen Variationen, schallt Krankenpflegerin Eleonore Lobmeyr sowie den Ärzten Gobert Skrbensky und Harald Kubiena entgegen, als sie in Kairo landen. Sie sind auf Einladung der ägyptischen Übergangsregierung hier, sie wurden vom Gesundheitsministerium in Kairo offiziell gebeten, "Revolutionsopfer zu versorgen" .

Opfer gibt es zu Tausenden im postrevolutionären Ägypten – im Gegensatz zur in Europa gängigen Meinung, der "ägyptische Frühling" sei vergleichsweise unblutig verlaufen. Schätzungen der Behörden belaufen sich auf bis zu 10.000 Verletzte – die Vereinigung Revolution Aid Group spricht von bis zu 6000 Opfern. Mindestens 1000 Ägypter wurden während der Revolutionswochen getötet. Die "field doctors" auf dem Tahrir-Platz taten ihr Bestes, verletzte Demonstranten zumindest notdürftig zu versorgen, die Spitäler hatten Alarmbereitschaft – und dennoch blieben viele unversorgt, weil Ärzte und Krankenhäuser überlastet waren. Das hat Folgen: Viele Verletzte haben bleibende Schäden davongetragen, wurden blind, können nicht mehr gehen, Gliedmaßen nicht oder nur mit Mühe bewegen.

Vor allem Auslandsägypter versuchen ihre gebeutelte Heimat zu unterstützen, sie organisieren überall auf der Welt Hilfsprogramme – so auch in Österreich. Die ausgebildete OP-Schwester Lobmeyr, der Orthopädische Chirurg Skrbensky und der Plastische Chirurg Kubiena wurden von der "Vereinigung österreichisch-ägyptischer Ärzte" gefragt, ob sie nicht zumindest ein Wochenende lang in Kairo operieren wollen. Sie wollten. Alle drei sind keine Neulinge in Sachen internationale medizinische Krisenhilfe, zum letzten Mal waren sie im Mai in Kairo. Damals standen sie 20 Stunden an Operationstischen, versorgten komplizierte Ein- und Durchschüsse und waren Lieblinge der ägyptischen Medien. Als sie spätnachts aus den OPs wankten, warteten schon die Reporter und wollten ihre Meinung zum "ägyptischen Frühling" hören.

Bitteres Lächeln

Diesmal ist das Tamtam um die drei Österreicher überschaubar. Immerhin – ein Fahrer und ein Guide erwarten sie am Airport, schleusen sie durch die Einreiseformalitäten und bringen sie ins Agouza-Krankenhaus, einen weitläufigen Bau in einem rasend hektischen Stadtteil der ägyptischen Hauptstadt. "Hier sind wir" , sagt Skrbensky im Direktionsbüro des Spitals und stellt die österreichische Delegation vor. Gegenüber sitzt einer, der sich "Sub-Manager" nennt, und einer, der gar nichts sagt. Sie machen große, erstaunte Augen: Wer sind die? Was sollen die hier tun? Nein, angekündigt sei niemand worden. Die Österreicher nehmen es gefasst und setzen sich erst einmal im schmalen Büro gedrängt zusammen.

Großes Verhandeln beginnt, während ein Ventilator von beeindruckenden Dimensionen Staub im Büro verteilt. Der Sub-Manager will nichts wissen von Revolutionsopfern im Spital, es gebe da niemanden zu operieren. Skrbensky seufzt und rückt seine Schirmkappe zurecht – der Zug des Ventilators setzt ihm zu. Natürlich müsse es Patienten geben, die versorgt werden müssen, warum seien sie denn sonst hier? Der Sub-Manager telefoniert ausführlich und verspricht schließlich: Morgen früh wird der diensthabende Chefarzt den Österreichern einige Fälle präsentieren, bei denen man Rat und Hilfe gut gebrauchen könne.

Zur gleichen Zeit, rund 2400 Kilometer nördlich, beendet Mustafa Selim gerade seine Abendvisite im Wiener Otto-Wagner-Spital, PavillonV. Selim ist Osteopath und Schmerztherapeut, er ist Ägypter und kam vor 33 Jahren zum Studieren nach Wien. Er hat die österreichisch-ägyptische Ärzte-Initiative gegründet, er ist Vorstandsmitglied der Vereinigung der ägyptisch-österreichischen Ärzte. Selim hat in den vergangenen Monaten Kontakte zur Uno in Wien, zur Botschaft und schließlich zum Militärrat geknüpft. 14 Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen waren auf seine Initiative bereits in Ägypten. Er kennt die Zahlen und kann über die Behauptung, es gebe keine unversorgten Revolutionsopfer mehr, nur bitter lächeln. Arztkollegen in Ägypten hätten ihm nahezu einhellig erzählt, welche langwierigen gesundheitlichen Folgen der Rückzug des Mubarak-Regimes für viele Demonstranten hatte: Zuerst setzte das Regime Tränengas und Wasserwerfer ein, nach ein paar Tagen schossen sie in den Boden, danach zielten sie schon auf die Füße, und so ging es immer weiter, in höhere Körperregionen.

Die Wasserwerfer warfen Demonstranten zu Boden, das Tränengas verletzte Augen, Schüsse in den Boden verursachten Querschläge – ganz zu schweigen von all den Durchschüssen, zertrümmerten Knochen, zerfetzten Sehnen und Muskeln. Selim kramt in einem Stapel Papiere, zieht ein Fax aus dem Kairoer Nasser Medical Center heraus: 800 Augenverletzungen seit Beginn der Revolution, steht da – das sei freilich nur eine Schätzung, erklärt Selim.

In der Theorie ist jeder versichert

Mubaraks Sturz hat die Gewalt in Ägypten nicht beendet. Jetzt bekämpfen einander die religiösen und die politischen Gruppen offen: Muslime gegen Kopten, Islamisten gegen Liberale, Arme gegen Reiche – dazwischen Militär und Polizei in undurchsichtigen Rollen. Dazu ein verrottetes Gesundheitssystem. Selim rollt mit den Augen: "Korruption, kein medizinischer Fortschritt." Gesundheitsberufe sind in Ägypten schlecht bezahlt, viele Ärzte haben zwei bis drei Jobs gleichzeitig, um ihre Familien ernähren zu können. In der Theorie ist jeder Ägypter krankenversichert und kann mit vollwertiger medizinischer Behandlung rechnen. In der Praxis bekommt jener den Termin beim angesehen Arzt, der zahlen kann – und nicht nur das. In den Spitälern zahlen die Patienten extra für ihr Essen, ihre Medikamente, sogar für ihre Bettwäsche. Einige Berufe seien in Ägypten gar nicht oder nur vereinzelt bekannt, klagt Selim: Ergotherapie, Logotherapie, Physiotherapie. Selim: "Patienten werden gut operiert, und dann fehlt die Nachbetreuung. Das macht den Erfolg oft zunichte."

Wenn sie denn nur operiert werden, seufzt in Kairo Mona Abdallahady. Die 32-Jährige ist Augenärztin, sie gehört der "Vereinigung ägyptischer Ärzte für die Revolution" an. Abdallahady und zwei Kollegen haben sich über eineinhalb Stunden lang durch den Kairoer Abendverkehr gequält, um die Österreicher zu treffen. Sie können es nicht fassen, dass man ihnen gesagt hat, es gebe keine Opfer mehr zu behandeln. Dem Orthopäden Mohamad Hany steigen Zornestränen in die Augen: "Es ist eine glatte Lüge." Nach wie vor sei die Dunkelziffer der Opfer hoch, viele getrauten sich noch immer nicht in die Ambulanzen, aus Angst, festgenommen zu werden. Mohamad, Mona und die Augenärztin Rasha Sameer operierten und versorgten verletzte Revolutionäre Tag und Nacht im Notspital am Tahrir-Platz, jetzt gehen sie wieder ihren regulären Jobs in verschiedenen Kairoer Spitälern nach. Monas Vertrauen in das ägyptische Gesundheitssystem ist freilich enden wollend. Sie und ihre Freunde verlassen sich weder auf offizielle Zahlen noch auf die herkömmlichen Behandlungswege. Sie haben via Facebook ihr eigenes Ärztenetzwerk aufgebaut. Sie wissen, welche Ärzte Patienten ohne Versicherungskarte behandeln – und welche Spitäler dabei ein Auge zudrücken. "Wir sind mittlerweile hunderte" , strahlt Mona, "wir können Patienten zu Spezialisten in ganz Ägypten vermitteln." Eine strikte Regel gibt es freilich: "Privat helfen wir nur Revolutionsopfern." Freilich räumt sie ein, "dass wir mit der Zeit diesen Begriff etwas breiter auslegen müssen" .

Die Österreicher im Agouza-Krankenhaus wären dazu durchaus bereit. Allein: Auch am nächsten Morgen ist es schwer, einen Arzt zu finden, der sich für zuständig erklärt. Die drei Österreicher traben hinter einer forsch ausschreitenden Spitalsbediensteten durch endlos lange Gänge, die offen sind zum etwas verwilderten Krankenhausgarten und den Verkehrslärm der immer verstopften Kairoer Boulevards hereinschwemmen. Das Licht in den Gängen ist diffus, hier wird gespart mit künstlicher Beleuchtung. Aus dem Halbdunkel tauchen immer wieder Kranke auf, die langsam und vorsichtig durch die Gänge tapsen, oft umflattert von aufgeregten Angehörigen. Die meisten Türen sind hier weit offen, man sieht in kleine Zimmer mit vielen Betten, bezogen mit bunten Kissen und Decken, die Patienten offenbar selbst mitgebracht haben. Vielen Toiletten fehlt hier die Brille, Waschbecken sind zersprungen und haben wohl schon länger kein Schwammtuch gesehen.

Engagement zahlt sich aus

Entmutigen lassen sich die drei nicht so leicht. Sie haben sich am Vorabend ans Telefon geklemmt und ihre Kontakte spielen lassen, die sie bei ihrem Aufenthalt im Mai geknüpft hatten. Sie wollen zumindest Patienten sehen, die sie schon einmal behandelt haben – eine Form von Nachbetreuung, die in Ägypten eher unüblich ist.

Das Engagement zahlt sich aus, denn plötzlich, in einem dunklen Gang im Agouza-Spital, steht ein Rollstuhl vor ihnen. Darin sitzt der 13-jährige Karim, sein Vater fällt den Ärzten um den Hals.

Karim wurde in Alexandria von einem Auto angefahren, monatelang lag er im Krankenhaus, danach bekam er einen Rollstuhl und blieb sich selbst überlassen. Seine Eltern sahen den Bericht über die österreichischen Ärzte im Fernsehen und belagerten gleich am nächsten Tag das Spital, in dem Kubiena und Skrbensky operierten. Karims Mutter bestürmte die Ärzte, ihren Buben an den Beinen zu operieren, denn er müsse ja später einmal irgendwie Geld verdienen. "Wir haben kein Geschäft, wo wir ihn hinset-zen können, mein Mann ist Straßenmusikant" , wein-te die Mutter, während Karim schwieg. Irgendwann nahm Kubiena den Buben beiseite und fragte ihn via Dolmetscher, was er eigentlich selbst wolle. Karim sagte prompt: "Ich will wieder allein essen können." Sein Arm war mehrfach gebrochen gewesen und im Ellbogen versteift. Karim traf mit der Gabel einfach nicht mehr in seinen Mund. Karims sehnlichster Wunsch gab den Ausschlag: Vier Stunden lang operierten die Österreicher den 13-Jährigen, versetzten Sehnen, transferierten Muskeln und brachten Karims Eltern ergotherapeutische Übungen bei, die sie mit ihrem Sohn unbedingt machen sollten.

An diesem Freitag im Agouza-Hospital will Skrbensky wissen, ob sich die Mühe ausgezahlt hat. Karim greift stolz zu einer Flasche Coca-Cola und führt sie an seinen Mund. Er schreibt einfache Worte und seinen Namen auf ein Blatt Papier. Vor Anstrengung beißt er sich auf die Lippen. Die Ärzte strahlen mit den Eltern um die Wette. Behutsam heben sie den jungen Patienten auf den Röntgentisch, sehen sich seinen Arm genau an. Alles gut verheilt, die Therapie hätte freilich intensiver sein können. Sein können – aber wem daraus einen Vorwurf machen? Die Österreicher halten sich nicht lange mit Ermahnungen auf, sie notieren, dass sie Karim ergotherapeutisches Essbesteck schicken wollen.

Weiter geht's ins Nasser Medical Center, das riesige, dem Wiener AKH durchaus ähnliche Krankenhaus am Ufer des Nil. Dort soll ein Patient auf sie warten, dessen durchschossene Hüfte Kubiena und Skrbensky im Mai operiert haben. Der Patient, so sagte ein Mittelsmann am Telefon, sei wohlauf, habe aber manchmal noch Schmerzen. Die Österreicher wollen ihn sehen und drängen zur Eile. Sie legen mitunter ein Tempo vor, das ihre ägyptischen Begleiter stresst. "Hier wird anders gearbeitet als in Österreich" , sagt OP-Schwester Lobmeyr, während sie den Operationstrakt durchstreift. Schon beim letzten Besuch im Mai habe es durchaus fundamentale Missverständnisse gegeben. Etwa dieses: Während der normale Arbeitstag eines Chirurgen in Österreich um 7 Uhr mit dem ersten "Hautschnitt" beginnt, spielt sich in Kairo vor 10 Uhr vormittags wenig ab.

Heute noch weniger. Auch im Nasser Medical Center warten keine Revolutionsopfer auf die Helfer aus Österreich. Der Patient mit der Hüfte ist nicht erschienen. Warum, weiß keiner. Wieder warten, Ratlosigkeit.

Ein junger Kairoer Orthopäde, den die Österreicher beim letzten Besuch kennengelernt haben, fasst sich schließlich ein Herz und bittet sie, seine kompliziertesten Fälle anzusehen. Eine junge Frau mit einer schweren Verbrennung an der Hand, ein kleines Mädchen, das seit seiner Geburt einen verkrüppelten Arm hat. Die Ärzte aus Wien haben einen anderen Stil im Umgang mit den Patienten. Sie sprechen eindringlich mit ihnen, berühren sie sanft an gesunden Stellen, bevor sie ihre Wunden angreifen. Die Diagnosen ähneln einander: Eine Operation wäre gut – aber nur, wenn eine Ergotherapie danach garantiert ist. Und wer kann das schon in Zeiten wie diesen?

Seinen Teil des "Deals"

Die Schwierigkeit sei, sagt Mostafa Elnaggari, Obst-und-Gemüse-Import-Export, für die Hilfe aus dem Ausland "die richtigen Patienten auszuwählen" . Der Geschäftsmann in edlen Jeans und Poloshirt hat die Österreicher zum gepflegten Abendessen in den Marina-Club, ein fix verankertes Schiff im Nil, eingeladen. Eine laue Brise streichelt die erhitzten Köpfe, Service und Essen sind erstklassig. Elnaggari nickt bedauernd mit dem Kopf, als er von den Schwierigkeiten der Österreicher hört. Aber er wirkt nicht unzufrieden. Seinen Teil des "Deals" (er spricht gerne von "Deals" ) hat er eingehalten: Die Österreicher sind hier in Kairo, er hat den Trip mitfinanziert, alle maßgeblichen Stellen im In- und Ausland sind darüber informiert ... Noch Fragen? Eine schon: Warum er den Ärzteaustausch arrangiert habe? "Weil man etwas tun muss, damit diese Revolution gelingt" , sagt Elnaggari mit ausholender Geste, während wieder einmal eines seiner drei Mobiltelefone klingelt. Als Geschäftsmann habe er jedes Interesse, dass die liberalen Kräfte, die mit dem Westen bis dato schon gute Geschäfte machten, in Ägypten die Oberhand behalten. Er wolle zudem nicht, "dass die Islamisten die einzigen sind, die gut organisiert sind" .

Das Ärzteteam um Mona, Rasha und Mohamad ist jedenfalls auch gut organisiert: Sie wollen ihr Doctors' Network weiter ausbauen und bestürmen die Österreicher am nächsten Tag, doch wiederzukommen. Auch Elnaggari hat Pläne mit den Gästen aus Wien: Sie sollen demnächst nach Suez und Alexandria eingeladen werden – dort warten Patienten scharenweise, beteuert der Geschäftsmann unverdrossen, in Suez habe die Revolution schließlich begonnen.

Die Österreicher lächeln schwach. Nach drei Tagen in Kairo sind sie müde, Ägypten schlaucht, wenn man nicht zum Urlauben hergekommen ist. Ob sie wiederkommen? "Wenn die Bedingungen passen" , sagt Harald Kubiena. "Wenn wir sinnvolle Aufgaben bekommen" , sagt Gobert Skrbensky. Wenn.

Wie sagte Mona am Telefon, als sie erfuhr, dass die Österreicher nur drei Tage in Kairo bleiben? "Um die Situation hier zu verstehen, brauchen Sie mehr Zeit." Nicht nur daran fehlt es im postrevolutionären Ägypten. (DER STANDARD, ALBUM, Printausgabe, 19.11.2011)