Nachdem die Belgier seit mittlerweile fast eineinhalb Jahren ohne ausgekommen sind, hat dort das Wort "Regierungsbildung" in den Ohren seiner Bürger einen anderen, nachgerade bedrohlichen Klang ...

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Weihnachten steht vor der Tür und damit droht den Belgiern eine schwere Regierungskrise - im Wortsinne. Nach eineinhalb Jahren ohne Regierung sind die zerstrittenen Parteien dabei, sich zusammenzuraufen. "Sie sind offenbar fest entschlossen, bis Weihnachten eine Regierung zu bilden," klagt ein Brüsseler, der seinen Namen nicht genannt haben möchte. "Das ist das Ende der guten Zeiten."

Tatsächlich haben die Belgier als erstes europäischen Land erfahren, wie gut es sich ohne Regierung leben lässt. Die eineinhalb Jahre ohne Einmischung von Ministern und Parteifunktionären würden, so ein Geschäftsmann in Knokke, als "das goldene Zeitalter" in die Geschichte des Landes eingehen. Eine Hausfrau in Brügge: "Wir haben einfach getan, was wir für vernünftig halten. Es war wunderbar." - Jetzt, da im Ernst wieder eine Regierungsbildung droht, macht sich im ganzen Land eine unverkennbare Nervosität breit. Ein Beobachter: "Wo die Menschen bisher reibungslos miteinander umgingen, handelt man jetzt nach dem Motto: Rette, was du retten kannst." Die Atmosphäre wirkt zunehmend vergiftet. Es kommt zu Beschimpfungen auf offener Straße, hier und da sogar zu handgreiflichen Auseinandersetzungen. Ein Betroffener, der mit einem allerdings sehr blauen Auge davongekommen ist: "Alles lief wie geschmiert. Und jetzt soll es auf einmal wieder eine Regierung geben. Es ist tragisch. Womit haben wir das verdient?"

In Belgien heißt es, die Regierung werde nicht aus freien Stücken sondern auf massiven Druck der europäischen Nachbarn gebildet. Vor allem in Deutschland und Frankreich werde die belgische Regierungsfreiheit als gefährlicher Präzedenzfall betrachtet. In Berlin habe man dem belgischen Botschafter offen klargemacht: "So wie die Dinge in Belgien laufen, besteht die Gefahr, dass auch die Bürger Deutschlands auf die Idee kommen, es mal mit Regierungslosigkeit zu versuchen."

Die Hoffnung lebt

Tatsächlich schrieb bereits ein Blogger: "Schlechter als mit der Regierung kann es ohne gar nicht laufen. Wir sollten alle Belgier werden." Ganz ähnliche Töne soll es auch in Frankreich gegeben haben. Nicolas Sarkozy soll einem guten, wenn auch geschwätzigen Freund anvertraut haben: "Meine Frau hat mich schon gefragt, was sie zur Abschaffung der Regierung anziehen soll."

In Belgien sieht man ein, dass es unmöglich ist, diesem Druck der Nachbarn auf Dauer zu widerstehen. Als einzige Hoffnung verbleibe die altbewährte Streitlust der beiden großen Landsmannschaften. Ein Kenner der Szene: "Wenn sich die gegenseitige Abneigung der Flamen und Wallonen als stärker erweist als die Angst vor Deutschland und Frankreich, könnte die Regierungsbildung im letzten Moment noch scheitern. Dann wäre Belgien gerettet." (DER STANDARD, Printausgabe, 19.11.2011)