Seit seinem fulminanten Wahlsieg vor eineinhalb Jahren hat der ungarische Regierungschef Viktor Orbán vorgeführt, was man mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament alles machen kann, um den Machterhalt langfristig abzusichern, und wie schnell man es machen kann: neue Verfassung, Beschneidung der Rechte des Höchstgerichts, Einschüchterung der unabhängigen Medien durch eine mächtige Kontroll- und Sanktionierungsinstanz und noch einiges mehr. Mahnende Worte aus der EU, die ohnehin nur sehr verhalten geäußert wurden, schmetterte Orbán als unzulässige Bevormundung ab - immer unter Berufung auf sein Mandat durch die Wähler.

Mit gleicher Vehemenz ging der selbsternannte Volkstribun in der Wirtschaftspolitik vor: Sondersteuer für Banken, die implizit zu Schuldenböcken für die Budgetmisere gestempelt wurden; gesetzliche Verpflichtung für die Banken, einen Teil der Verluste bei den Fremdwährungskrediten abzudecken. Und, vor allem: Vom Internationen Währungsfonds werde sich Budapest nichts mehr diktieren lassen.

Jetzt hat das Diktat der leeren Kassen Orbán zu einem Canossagang zum IWF gezwungen. Aber in den Worten des Premiers klingt das so: "Niemand kann mehr die wirtschaftliche Eigenständigkeit Ungarns einschränken." Das sei "das erste Gesetz der Regierungsphilosophie".

Glaubt Orbán selbst, was er sagt, dann handelt es sich um Realitätsverweigerung in fortgeschrittenem Stadium. Will er es seinem Volk wider besseres Wissen weismachen, dann ist es ein Spiel mit dem Feuer. Mit ihrer unkontrollierten Ausgabenpolitik waren es alle früheren Regierungen seit der Wende 1989, einschließlich jener unter Orbán, die Ungarns wirtschaftliche Eigenständigkeit selbst aktiv unterminiert haben. Das Land war schon einmal, im Herbst 2008, fast bankrott. Jetzt ist es offenbar wieder so weit.

Der Unterschied liegt darin, dass Orbán diesmal die Verantwortung nicht abschieben kann. Zugleich aber kann er die enormen wirtschaftlichen Probleme nicht im Alleingang lösen - Zweidrittelmehrheit hin oder her. Darüber täuscht nationalistisches Imponiergehabe nur kurz hinweg. Es werden die Rechtsextremisten von der Jobbik-Partei sein, die Orbán als Erste und am lautesten mit der Kluft zwischen Rhetorik und Realität konfrontieren. In Umfragen liegt Jobbik schon auf Platz zwei. Der Volkstribun wird die Geister, die er rief, nicht mehr los. (DER STANDARD, Printausgabe, 19.11.2011)